Hamburg. Polizei prüft Terrorverdacht im Fall von getötetem 16-Jährigen. Verfassungsschutz warnt vor „Hysterie“.

Es reichten zwei Sätze, um den Sicherheitsapparat am Sonnabend kurz vor Mitternacht in Aufruhr zu versetzen. Ein „Soldat des ,Islamischen Staates‘“ (IS) habe am 16. Oktober zwei Menschen in Hamburg erstochen, so die Mitteilung im IS-Propagandaorgan Amaq. „Er führte die Operation als Reaktion auf den Aufruf aus, Zivilisten der Länder der Koalition anzugreifen.“ Ebenso schnell mehrten sich Zweifel über den angeblich ersten Mord der IS-Miliz in Deutschland.

Innensenator Andy Grote (SPD) und der Polizeipräsident berieten sich am Sonntagvormittag mehrfach über die Glaubwürdigkeit der Botschaft, im Präsidium tagten hochrangige Beamte. „Die Fragezeichen sind verdammt groß“, sagte ein Teilnehmer später. Der Zeitpunkt der Mitteilung liegt auffällig weit hinter dem Mord an dem 16-jährigen Victor E. am 16. Oktober unter der Kennedybrücke. In den Grafiken von allen jüngsten Anschlägen der IS-Miliz, die im Internet kursieren, ist der Fall nicht vermerkt. Für die Terrorgruppe, die ihre Verbrechen meist binnen weniger Tage für ihre Propaganda nutzt, ein ungewöhnlicher Vorgang.

Tatfolge passt nicht zum Vorgehen der Terroristen

Dass die Mitteilung von Amaq fälsch­licherweise von zwei Opfern berichtet, verstärkte bei den Bundesbehörden die Skepsis. Der Generalbundesanwalt veranlasste zwar routinemäßig, die Zuständigkeit für den Fall nach dem neuen Hinweis zu prüfen. In Abstimmung mit der Hamburger Staatsanwaltschaft wurde aber schnell entschieden, dass die Mordkommission die Ermittlungen vorerst weiter leiten wird. Die Beamten des Staatsschutzes wurden hinzugezogen. „Es gab vorher überhaupt keinen Anlass zu denken, dass die Tat einen religiösen Hintergrund haben könnte“, heißt es aus Polizeikreisen. Und auch nach der Veröffentlichung erscheine diese Erklärung nicht schlüssig. „Dass ein IS-Terrorist einen jungen Mann ersticht und seine Freundin nur wegstößt, passt nicht in ihr Tatmuster. Dafür hätte ein Terrorist keinen Grund.“

Kommentar: "IS"-Mord? Das wären die Folgen

Dass die Terrorgruppe mit ihrer Mitteilung gewartet habe, um den Attentäter zu schützen, erscheint den Behörden ebenfalls wenig plausibel. Ein islamistisches Motiv kann dennoch nicht mehr ausgeschlossen werden. Der Hamburger Verfassungsschutz prüft die Internetbotschaft in Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden. „Allerdings sollte jetzt niemand in Hysterie verfallen und der Terrormiliz damit auf den Leim gehen. Medien sind für den IS ein Mittel des Terrors“, sagte Marco Haase, Sprecher des Hamburger Verfassungsschutzes.

Zentral in der Prüfung ist die Einschätzung, wie glaubwürdig Amaq allgemein und aktuell eigentlich ist. In der Vergangenheit verzichtete die IS-Miliz streng darauf, sich ohne maßgebliche Beteiligung zu Anschlägen zu bekennen – trotz ihrer Propaganda wolle die Miliz ihre Glaubwürdigkeit nicht beschädigen, glaubten Terrorexperten. Da die IS-Miliz militärisch stark geschwächt ist, könnte sie sich von diesem Grundsatz aber nun verabschiedet haben. Den Ursprung einer solchen Mitteilung zurückzuverfolgen und ihre Echtheit direkt zu überprüfen ist auch mit geheimdienstlichen Mitteln schwierig.

Viele Szenarien im Mordfall denkbar

Die Hoffnung der Polizei ruhen vielmehr auf den Ermittlungen der Mordkommission. Schon vor der Mitteilung der IS-Miliz hatte der rätselhafte Fall vor allem Eltern verunsichert: Der 16-jährige Victor E. saß mit seiner Freundin am Tatabend kuschelnd an der Alster, als der Unbekannte den Jugend­lichen mit einem Messer attackierte. Ein Motiv für die Tat war nicht im Ansatz erkennbar. Zwischen Täter und Opfer hatte es keinen Streit gegeben; sie hatten sich offenbar nie zuvor gesehen. Hinweise auf eine Raubtat lagen nach der Tat ebenfalls nicht vor.

Erst am Donnerstag hatten die Ermittler den gesamten Tathergang noch einmal nachgestellt – Einsatztaucher vollzogen dabei die Bewegungen der 15 Jahre alten Freundin des Opfers nach, Polizisten suchten das Gebüsch am Alsterufer erneut vergeblich nach der Tatwaffe ab. In den vergangenen anderthalb Wochen erreichten die Polizei jedoch neue Hinweise, denen mit Hochdruck nachgegangen wird.

Auch wenn der Täter eine Beziehung zu der Terrorgruppe aufwiese, bleiben verschiedene Szenarien denkbar. So könnte der Unbekannte die Tat auch erst begangen und anschließend den Kontakt zu den Islamisten gesucht haben, die seine Tat dann für sich einnahmen. Dass die Mordkommission weiter verantwortlich ermitteln darf, legt auch nahe, dass die neuen Spuren der Ermittler Erfolg versprechend sind.

Gefahr von Anschlägen weiterhin hoch

Die Sicherheitsbehörden betonen trotz der erheblichen Zweifel an der Mitteilung, dass die abstrakte Gefahr von Anschlägen in Deutschland weiterhin hoch ist. Laut Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sind insbesondere „ferngesteuerte“ Attentäter ein Risiko. Das Thema soll am Dienstag in der Lagebesprechung der Chefs der Sicherheitsdienste im Kanzleramt eine Rolle spielen. Der Verfassungsschutz zählte zuletzt 640 Personen in der salafistischen Szene in Hamburg, davon 310 Unterstützer des militanten islamischen Dschihads.

Die Polizei ist in dem Mordfall auf weitere Erkenntnisse angewiesen. Die 15-Jährige hat den Täter als 1,80 bis 1,90 Meter großen, etwa 23 bis 25 Jahre alten Mann „mit südländischem Erscheinungsbild“ beschrieben. Er hat kurze, dunkle Haare und trug einen braunen Pullover und blaue Jeans. Die Polizei bittet Zeugen, sich unter Tel. 040/428 656 789 zu melden.