Punks, Pendler, Vagabunden: Mit 500.000 Reisenden pro Tag hat die Hansestadt Deutschlands meistbesuchten Bahnhof.
Neuerdings läuft moderne Chill-out-Musik statt Klassik am Ausgang zum Hachmannplatz, geblieben sind die Obdachlosen. Auch die verbrauchte Luft ist immer noch die gleiche. Drinnen, auf der Treppe zur Wandelhalle, liegt ein Mann mit Zuckerschock. Rettungssanitäter, Schweiß auf der Stirn. Sein Insulin? Vergessen. Am Ausgang zur Spitalerstraße haben die Punks schon Stellung bezogen und mit dem Kippenschnorren begonnen, da fährt sich ein Mann durch die Haare und tanzt eine Passantin an. Sie ist angewidert, er geht pfeifend weiter, mitten in eine Gruppe Geschäftsleute, die um den Stoff ihrer feinen Anzüge fürchten. So geht das morgens um 7 Uhr los, am besucherstärksten Bahnhof der Republik.
Es ist ein dauerndes Schwirren, ein ewiges Durcheinander, seit jeher ist Hamburgs Hauptbahnhof Soziotop und Seismograf der Gesellschaft. In den 1940er-Jahren kamen die Kriegsheimkehrer, dann die Gastarbeiter, später Transitreisende, noch später Drogenabhängige und jetzt wieder Bürgerkriegsflüchtlinge. Ob Punk oder Pendler, Vorzeigemanager oder Vagabund – jeden Tag schluckt der 1906 eingeweihte Monumentalbau 500.000 unterschiedliche Menschen, und spuckt sie durch rund um die Uhr geöffnete Türen wieder aus. Absprungschanze, Auffangbecken, Arbeitsort – allein 1350 Menschen sind beruflich am Hauptbahnhof beschäftigt.
Für einige ist er Sehnsuchtsort, für andere Endstation, für die meisten ist er Mittel zum Zweck. Wobei dieser Zweck, das Schleusen von Mensch und Material, durch die hohe Nutzungsintensität zunehmend erschwert wird. Als Problem erweist sich dabei das denkmalgeschützte, in diesem Jahr 110 Jahre alt werdende Empfangsgebäude: Es ist den Besucherströmen nicht mehr gewachsen und vor allem im Südteil chronisch überlastet.
Gegen 18 Uhr zeigt sich das an zwei völlig unterschiedlichen Gesichtern des Bahnhofs: In der Wandelhalle, dem feinen Norden des Hauses, schlendern Reisende an Geschäften vorbei. Eine erschöpfte Jugendgruppe aus Schweden lümmelt unter der Treppe zur Galerie, um auf den Nachtzug nach Zürich zu warten. Und bei Gosch treffen sich Rentner zum ersten Weißwein.
Auf dem etwas ranziger wirkenden Südsteg dagegen hasten die Leute stumm in zwei großen Bewegungen von rechts nach links und umgekehrt. Anschlusszüge oder S-Bahnen sind das Ziel. Wer stehen bleibt, wird umgerannt. Jeder Stopp am Fahrkartenautomaten, jede Schlange vor einem Imbiss wird mit Stau und Frust bestraft.
Anfang des Jahres hieß es, 2017 könne der dringend benötige Umbau beginnen, um Züge- und Menschenmassen zu entzerren. Doch daraus wird nichts. Die sogenannte Umfeldanalyse, mit der die Stadt klären will, wie sich eine Erweiterung des Bahnhofs auf Verkehr und Umgebung auswirken würde, werde laut Verkehrsbehörde erst im kommenden Jahr präsentiert. Der Hauptbahnhof muss vorerst weiter ächzen.
Das wissen regelmäßige Nutzer wie Ulla Koeppen aus Blankenese nur zu gut. „Als Hamburgerin bin ich natürlich stolz auf unseren Hauptbahnhof“, sagt sie kurz vor der Abreise nach Rügen. „Nur ist er zu klein für den Betrieb. Das muss geändert werden.“ Dann übertönen Lautsprecherdurchsagen, Anfahrgeräusche und Lokquietschen ihre Rede. Der zögerliche Umbau ist nichts Neues.
Dabei kommt es auf die Perspektive an. Für Kim Greiwe, 56, Rucksacktouristen aus Tampa (Florida), präsentiert sich der Verkehrsknoten auf ihrer 20-tägigen Europatour morgens um 8 Uhr erstaunlich aufgeräumt und sauber. „Kein Vergleich zu Kopenhagen, wo ich gerade herkomme“, sagt sie, während sie auf ihren Zug nach Berlin wartet. Ganz anders empfindet es Wolfgang Wilhelm, der auf dem Weg nach Heimfeld ist: „Eine Katastrophe“ nennt er Hamburgs Hauptbahnhof. Das Durcheinander erinnere ihn an einen Hexenkessel, die Enge ertrage er nur schwer. Ein längerer Aufenthalt sei für ihn das nackte Grauen.
Das massive Platzproblem – es ist auch eine Frage der Lage: Wie in einer Falle duckt sich die mächtige Konstruktion in den ehemaligen Stadtgraben, wichtige Verkehrsverbindungen wie der Wallringtunnel lassen großzügige Ausbauten kaum zu. Was bleibt, ist Entzerrung in der Halle. Doch bisher beschränken sich die Bemühungen auf künstliche Hindernisse und Pfeile, die auf den Fußboden gepinselt wurden. „Zwei neue Urinale, aber sonst hat man nix getan“, zürnte jüngst der Hamburger FDP-Politiker Wieland Schinnenburg. Es ist viel subjektive Wahrnehmung im Spiel.
Die schwedische Konfirmandengruppe etwa hat einen Betreuer, der den Hauptbahnhof noch aus Interrailzeiten kennt. Für Kristian Hvitfeldt, 43, sei das Gefühl „unsicherer“ geworden. Ein diffuser Zustand, den die Bundespolizei nur insofern bestätigen kann, als dass die Taschendiebstähle zugenommen hätten. Seit einem Jahr reagieren Bundes- und Landespolizei darauf mit gemeinsamen und zusätzlichen Zivil-Trupps, die an 80 Fahndungstagen immerhin 300 Verdächtige festnehmen konnten. „Erstmal konnten wir die Aufwärtsspirale stoppen“, sagt der Sprecher der Bundespolizei, Rüdiger Carstens.
Ein Problem im Bahnhof sei aber immer noch die Zunahme der Zahl Betrunkener und die dadurch steigende Zahl von Unfällen, Beleidigungen und Körperverletzungen im Bahnbereich. Ob die drei Polen, die am Abend am Hachmannplatz dem Whiskey zusprechen, dazugehören, bleibt ungewiss. Im Suff äußern sie sich vorerst nur alltagsrassistisch gegenüber anderen Minderheiten, bleiben sonst aber friedlich.
80 Geschäfte, Nordsteg, Südsteg, Wandelhalle und die verzweigte Untergrundstruktur der Hochbahn – der Hauptbahnhof ist ein komplexes Gebilde, das mal „nach Pisse stinkt“, wie Passanten schimpfen, mal den Duft der weiten Welt verströmt, wenn gut situierte Reisegruppen den Krabbenteller als norddeutsche Folklore bestellen. In jedem Fall hat der Hauptbahnhof viele Gesichter – als Soziotop und Schleuse.