Kirchdorf-Süd. In diesem Jahr feiert Kirchdorf-Süd 40. Geburtstag. Der Anfang war schwierig. Nun kann man dort lernen, wie Integration funktioniert.
„Alle, die in Kirchdorf-Süd wohnen, wissen, dass hier nicht nur viele Menschen, sondern auch besonders viele Probleme auf einem Haufen sind. Die Menschen, die hier wohnen, haben oft besonders harte Arbeitsplätze. Stress bei der Arbeit, kein ausreichendes finanzielles Auskommen, dabei hohe Mieten. Vielen steht daher das Wasser bis zum Hals. (…) Auch in der Freizeit ist es schwer, Ausgleich zu finden. Im Block kennt man sich kaum untereinander und ist oft allein. Es gibt wenige Freizeitmöglichkeiten und nur schlechte Verkehrsverbindungen nach draußen. (…) Für viele liegt es daher nahe, diese Sorgen mit Alkohol zu betäuben.“
Diese Einschätzung stammt aus der Anwohner-Zeitung „Kirchdorf-Süd-Kurier“, Ausgabe Juni 1978. Rund 40 Jahre später können die Schwestern Amira, 30, und Samira, 32, mit diesen Beschreibungen nichts anfangen. Beide kamen als Teenager in die Hochhaussiedlung, haben inzwischen eigene Familien und leben immer noch in Kirchdorf-Süd. Eine bewusste Entscheidung, wie sie sagen. „Wir fühlen uns hier einfach wohl, es ist sauber, sicher, und die Menschen leben hier in einer großen Gemeinschaft“, sagt Amira.
2000 Wohnungen und knapp 6000 Bewohner
Fast vier Jahrzehnte liegen zwischen „viele Probleme auf einem Haufen“ und „Wir fühlen uns hier einfach wohl.“ In diesem Jahr feiert Kirchdorf-Süd – eine der bekanntesten Großsiedlungen in Deutschland – sein 40-jähriges Bestehen. Kirchdorf-Süd, das sind 2000 Wohnungen und knapp 6000 Bewohner, rund 60 Prozent von ihnen haben nach Schätzungen einen Migrationshintergrund. Dabei war Kirchdorf-Süd eigentlich nie explizit als Migrantensiedlung angelegt. Aber günstige und geförderte Wohnungen zogen eben auch Menschen an, die neu nach Deutschland kamen.
Viele von ihnen kamen in den 80er-Jahren hierher. Eine Dekade, die damals als das Jahrzehnt der Flüchtlinge bezeichnet wurde. Rund elf Millionen Menschen waren damals weltweit auf der Flucht. Mitte 2015 waren es 15,1 Millionen Menschen. Es war mal wieder das Jahr der Flüchtlinge – vorerst zumindest.
Und erneut muss Platz geschaffen werden, wieder ist von Großsiedlungen die Rede. Wer sich in Kirchdorf-Süd umhört, der lernt viel darüber, wie Integration gelingen kann. Und wie auf keinen Fall.
Die Verantwortlichen hätten erst nach und nach aus Fehlern gelernt
Barbara Kopf arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Sozialpädagogin im Freizeithaus und kennt die Geschichte des Stadtteils gut. „Vor 40 Jahren gab es hier praktisch keine Integrationsmaßnahmen“, sagt sie. „Damals hat man gedacht, dass man nur einfach ein paar Wohntürme aus dem Boden stampfen müsste und dass sich der Rest dann schon von selber regelt.“ Ein Irrglaube. „Die Probleme in den 80er-Jahren waren hier massiv.“ Erst nach und nach hätten die Verantwortlichen aus den Fehlern gelernt.
„Nach Jahren des Vandalismus und der Kriminalität in den 80er-Jahren wurde Kirchdorf-Süd zum Sanierungsgebiet. Die Häuser wurden ansprechender gestaltet“, so Kopf. Pförtnerlogen kamen hinzu, ebenso ein Kinderbauernhof, Spielplätze, Freizeit- angebote und Deutschkurse.
Aus den Fehlern von damals müsse man bei neuen Bauvorhaben nun lernen. „Man muss einfach wissen, dass es nicht reicht, ein paar Sozialarbeiter abzustellen. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen und Angeboten sind nötig, damit die Integration gelingen kann.“
„Oh Gott, da will ich nicht wohnen“
Die Schwestern Amira und Samira kennen die schlimmen Geschichten aus Kirchdorf-Süd nur aus Erzählungen. Dennoch können sie sich noch daran erinnern, was sie dachten, als sie die Hochhäuser zum ersten Mal sahen: „O Gott, da will ich nicht wohnen. Das sieht ja schrecklich aus.“ Abweisend wirken die Hochhäuser auch heute noch. „Aber je näher man rankommt, desto schöner wird es“, sagen sie. Bloß, dass die meisten eben nie nah rankommen würden. Die Klischees seien heute immer noch präsent: sozialer Brennpunkt, Ausländerviertel, Getto, Vorstadt, Satellitenstadt und so weiter.
Wenn sie mal außerhalb von Kirchdorf-Süd unterwegs sind, sind die Reaktionen aber immer noch dieselben: „Da wohnst du?“, „Das ist doch gefährlich“, „Da kann man doch nachts nicht alleine auf die Straße gehen.“ Und überhaupt: „Da ist doch überall Müll.“ Amira lacht das weg. „Ich hatte hier noch nie Angst, und hier ist es ganz bestimmt sauberer als in Eppendorf.“
Barbara Kopf kann darüber nicht lachen. Pauschalurteile ärgern sie. „Es gibt doch nicht den klassischen Menschen aus Kirchdorf-Süd“, sagt sie. Und wegen eben solcher Vorurteile würden viele Bewohner Kirchdorf-Süd noch immer als stigmatisierend empfinden. „Wer hier rauswill, muss sich härter durchbeißen als andere“, sagt Kopf. Aber die meisten blieben ohnehin hier.
So wie Amira und Samira. Ihre Anfangsbedenken zerstreuten sich schnell. Die Leiterin des Mädchentreffs, Sozialarbeiter und Nachbarn seien kurz nach dem Einzug auf sie zugekommen. „Wer neu nach Deutschland kommt, der hat es nirgendwo besser als hier“, meinen sie.
Deutschkurse, Elternschule und Nachbarschaftsfrühstück
Einige Punkte halten sie für besonders wichtig: Die Pförtnerlogen zum Beispiel. „Die Pförtner kennen alle im Haus, ein unbekanntes Gesicht würde ihnen sofort auffallen“, sagt Amira. „Auch kümmern sie sich darum, dass keine Gruppen in den Fluren rumlungern, Alkohol trinken und rauchen. Außerdem lobt sie die sozialen Angebote, wie zum Beispiel die Deutschkurse, eine Elternschule oder das Nachbarschaftsfrühstück, das einmal pro Woche bei ihnen im Haus organisiert wird. „Da kommen alle Nationalitäten zusammen und sind so gezwungen, auf Deutsch miteinander zu reden.“ Wichtig seien außerdem ausreichend Parks, Grünflächen und Spielplätze. Verbesserungsbedarf sehen sie nur bei den Müllcontainern. Die sollten abschließbar sein. „Da hat es zuletzt manchmal gebrannt.“
Jens Szymkowiak ist seit 2002 Bürgernaher Beamter für Kirchdorf-Süd. Wenn er durch sein Viertel läuft, dann dauert es etwas länger. An jeder Ecke wollen die Menschen mit ihm plaudern oder ihm zumindest kurz die Hand schütteln. Er ist Kummerkasten, Platzwart, Kontrolleur und Vertrauensperson in einem. „Leben kann man hier gut“, sagt er. „Die Wohnungen sind günstig und gut geschnitten.“ Auch aus seiner Sicht habe das mit der Integration in weiten Teilen gut geklappt.
Parallelgesellschaften gebe es zwar auch – aber nicht in großem Umfang. Zu seinen Rundgängen gehört auch ein Besuch in der Flüchtlingsunterkunft am angrenzenden Karl-Arnold-Ring. Hören, ob alles gut läuft, berichten, ob in der Nacht was passiert ist. Aber meistens bleibe es ruhig.
Namen, die fremd klingen
Die Rentnerin Marlis Bobbermin kann von ihrem Küchenfenster aus auf die Flüchtlingsunterkunft schauen. Mit den „Neuen“ hat sie kein Problem. Was fremde Kulturen angeht, kennt sie sich schließlich aus.. Sie zählt zu den ersten Bewohnern hier. 1976 ist sie mit ihrem Sohn hierhergezogen. Auf dem Klingelschild ihres Wohnblocks stehen Namen, die fremd klingen. In ihrem Haus leben Polen, Türken, Araber, Serben. „Am Anfang ging das mit Händen und Füßen.“ Mittlerweile würden die meisten ganz gut Deutsch sprechen. Und sie selbst hat gelernt, was hallo, tschüs, danke und bitte auf Türkisch heißt. Was aus ihrer Sicht wichtig ist, damit Integration funktioniert: „Dass man Zeit miteinander verbringt und sich hilft.“
Stolz kramt sie ein paar Bilder aus einer Schachtel hervor. Sie zeigen, wie die Nachbarn an Sommertagen vor dem Haus ihre Stühle zusammengestellt und gefeiert haben. „Auf die Nachbarschaft hier lasse ich nichts kommen.“ Erst neulich sei wieder eine Türkin eingezogen. Und Bobbermin regelt es, wie sie es immer geregelt hat. „Hingehen, Handschlag und fertig.“ Auch wenn sie mal beobachtet, wie die Flüchtlinge von gegenüber draußen rauchen und die Stummel liegen lassen, geht sie gleich hin. „Manche nennen mich schon Frau Bürgermeister.“ Dass nicht alle in Hamburg so aufgeschlossen sind, kann sie verstehen. „Nur, weil ich es kann, heißt es ja nicht gleich, dass es alle können.“
„In den 80er-Jahren wollte hier kein Taxifahrer mehr herfahren“
Sie kann sich auch noch daran erinnern, dass der eine oder andere mal die Augen verdreht, wenn sie sagte, wo sie lebt. „In den 80er-Jahren wollte hier kein Taxifahrer mehr herfahren. Ständig Polizeieinsätze, Drogen, Diebstahl, Prügeleien.“ Heute sei es besser: „Aus den Jungs, die sich geprügelt haben, sind nette Männer geworden“, sagt sie.
Auch Amira und Samira haben die „Neuen“ aus der Flüchtlingsunterkunft nebenan schon kennengelernt. „Einige kommen immer zu unseren Nachbarschaftstreffs“, sagt Amira. Sie erwarten von ihnen, dass sie sich anpassen, aber sie haben auch Verständnis, wenn es nicht gleich klappt. „Der Mensch ist ja kein Computer, auf den man einfach ein neues Programm einspielt und der dann beim Neustart Deutsch spricht“, sagt sie und überlegt dann: „Ich glaube, Liebe und Bildung sind am Wichtigsten. Und ein warmes Zuhause.“