Hamburg. Monatelang hat sich die Montage der Glocken verzögert. Das Uhrschlagwerk ist erstmals seit fast 100 Jahren wieder komplett.

Geschafft! Endlich sind die zwei neuen, tonnenschweren Glocken an dem Ort, wo sie hingehören: In rund 100 Metern Höhe unter der Barockkuppel des Hamburger Michel und direkt über der Aussichtsplattform.

Es hat ein Jahr lang gedauert bis die kleinen Kolosse nun das machen können, wofür sie im Juni 2015 gegossen wurden: die Uhrzeit anschlagen und zu bestimmten Anlässen zu läuten. Am Donnerstag hievte ein Spezialkran die 1,7 Tonnen schwere „Vaterunserglocke“ und die 869 Kilogramm schwere „Friedensglocke“ in den blauen und endlich mal nicht windigen Hamburger Himmel. Vor dem Michel standen Zuschauer, um die einzigartige Aktion zu verfolgen und zu fotografieren. Sie dauerte mehrere Stunden lang. „Wir freuen uns sehr, dass die beiden Uhrschlagglocken auf den Turm gebracht werden konnten“, sagt Michel-Hauptpastor Alexander Röder.

Das beste Glockeninstallationswetter: windstill und nicht kalt

Baukoordinator Gernot Schindler, Ingenieur und ehrenamtlicher Michel-Mitarbeiter, hatte seit Tagen den Wetterbericht verfolgt. Immer war es zu windig, immer wieder wurden stärkerer Böen vorhergesagt. Seit Januar versuchte das Michel-Team, einen meteorologisch geeigneten Zeitpunkt zu finden. Am besten windstill und nicht kalt.

Der Donnerstag brachte endlich wenig Wind – ideale Bedingungen für die Himmelfahrt der Michelglocken. 40 Mitarbeiter aus unterschiedlichen Firmen waren dafür im Einsatz. In den nächsten Tagen werden die Feinarbeiten im Turm fortgesetzt. Erst in gut 14 Tagen werden die beiden Neulinge verkünden, was die Stunde geschlagen hat. Während der Montagearbeiten kommt es zu Einschränkungen des Turmbesuchs, sagt Michel-Sprecherin Ines Lessing. Wenn alle zehn Glocken erklingen, ist das Geläut im Michel erstmals wieder so komplett wie vor 100 Jahren.

Aus den alten Glocken wurden Kanonen

Der Michel und seine Glocken – das ist eine lange Geschichte: Nach dem verheerenden Brand erhält die Hamburger Hauptkirche im Juni 1910 zehn neue Glocken. Sieben Jahre später konfisziert das Kriegsministerium neun von ihnen. Aus dem Glocken werden Kanonen, und zwar mit kirchlichem Segen. Der damalige Hauptpastor August Wilhelm Hunzinger (1871-1920) predigt: „Gott will, dass feuerspeiende Schlünde aus diesen Glocken werden, damit unser deutsches Vaterland verteidigt bleibe gegen die Feindschaft aller Welt.“

Während des Zweiten Weltkrieges werden erneut die Michel-Glocken zur Kriegszwecken beschlagnahmt. Auf der Veddel befindet sich Deutschlands größter Glockenfriedhof. Nach den Plänen des NS-Regimes soll es im damaligen Deutschen Reich nur noch an zwei Gotteshäusern Glocken geben. 1947 erklingen wieder vier neue Glocken als Hoffnungszeichen für die Stadt.

Doch seit mehr als 100 Jahren fehlen zwei Uhrschlagglocken. Der Kirchenvorstand entscheidet im 2014, sie von einer hessischen Firma gießen zu lassen und startet die Spendenaktion „So klingt Hamburg“. Die Kirchengemeinde will ein Zeichen des Friedens setzen. 350.000 Euro werden gesammelt, bereits ein Jahr später ist das Spendenziel erreicht.

Am 19. Juni 2015 werden die „Friedensglocke“ und die „Vaterunserglocke“ mit einer beeindruckenden Zeremonie in der Glockengießerei Rincker in Sinn bei Frankfurt am Main gegossen. An einem Freitagnachmittag, zur überlieferten Todesstunde Jesu, fließt heiße Bronze in die Formen. Als Glockenzier tragen sie die Inschrift: „Vater vergib“ (Vaterunserglocke) und „Er ändert Zeit und Stunde“ (Daniel 2,21). Den Spruch der „Vaterunserglocke“ gibt es auch in englischer, französischer und russischer Sprache. Die „Vaterunserglocke“ ersetzt die ehemalige Betglocke des Michel. Sie schlägt traditionell nach jedem Vers des Vaterunsers, das im Gottesdienst gebetet wird. Außerdem wird sie den neuen Halbstundenton der Michel-Uhr anschlagen.

Seit September liegen die Glocken bereit

Im September 2015 werden die beiden Glocken nach Hamburg transportiert und mit einem Glockenfest geweiht. Sie bleiben zunächst im Eingangsbereich stehen. Nachdem zusätzliche Stahlteile in der Kuppel montiert und Schwingungstests vorgenommen wurden, um die vier Uhrschlagglocken mit einem Gesamtgewicht von 6,5 Tonnen zu halten, steht im Frühjahr 2016 dem Aufzug der neuen Glocken nichts mehr im Wege – außer dem Wetter.

„Heute ist uns der Himmel hold“, sagte Baukoordinator Gernot Schindler am Donnerstag. Und Michel-Hauptpastor musste an diesem denkwürdigen Tag zahlreiche Fragen zur Funktion von Kirchenglocken beantworten. „Uhrschlagglocken“, sagt er, „geben den Tagen eine Struktur. Sie laden dazu ein, zu schweigen. Und sie sind viel schöner anzuhören als das Pieppiep der Digitaluhren.“ Außerdem, fügt er hinzu, gibt ihr Klang den Menschen ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit.

Als Seelsorger weiß er von Anwohnern, die nachts nicht schlafen können. Der Klang der Uhrschlagglocken auch mitten in der Nacht habe für sie etwas „Bergendes“, sagt er. Sie wissen dann: Auch wenn es ihnen nicht so gut gehe – der Michel sei immer doch da.