Was geschieht in Hamburgs berühmtester Kirche, wenn abends die letzten Besucher gegangen sind? Unser Reporter erlebte Erstaunliches.

Am Ende der Passionsandacht stellt sich Alexander Röder in den Mittelgang der Kirche. Der groß gewachsene Mann mit dem vollen weißen Haar und dem stets freundlichen Gesicht hat für jeden einzelnen Besucher zum Abschied noch ein persönliches Wort. 42-mal fröhliches Händeschütteln. Die meist älteren Mitglieder dieser Hamburger Gemeinde, die weltweit bekannt ist, bedanken sich bei ihrem Hauptpastor für die vorösterlichen Gedanken über den Propheten Elija, die auch von Flucht und Vertreibung handeln. Und für die wunderbaren Orgeltöne von Kirchenmusikdirektor Manuel Gera, die diesen Mittwochabend auch zu einem 45-minütigen Klang-Fest gemacht haben.

Die Kollekte erbringt einen beträchtlichen Betrag für Fluchtpunkt, die kirchliche Hilfsstelle für Flüchtlinge. Damit sollen Ärzte unterstützt werden, die in Hamburg Menschen ohne Krankenversicherung behandeln.

Liste mit den Hamburger Oster-Gottesdiensten als PDF zum Herunterladen

Wir sind im Michel. Mit 2500 Sitzplätzen die größte Kirche der Stadt. Mit mehr als einer Million Besuchern pro Jahr längst auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wahrzeichen und Touristenmagnet, Konzertsaal und Eventlocation, Kirche und Grabstätte, Geschichtsort, soziale Anlaufstelle und mittelständisches Unternehmen.

„Jack un Büx“ ist eine Initiative von
Michel-Diakon
Simon Albrecht
„Jack un Büx“ ist eine Initiative von Michel-Diakon Simon Albrecht © HA | Roland Magunia

Da gerät es immer mal wieder in Vergessenheit, dass hier in der St.-Michaelis-Gemeinde am Morgen, am Mittag und am Abend viele Menschen zusammenkommen, um in andächtiger Stille das Gespräch mit Gott zu suchen. Um ihre Fragen loszuwerden und auf Antworten zu hoffen. Um Worten und Texten hinterherzuhören, die man vielleicht auch gern in sein eigenes Gedanken-Depot übernehmen würde. Um Menschen und Bildern zu begegnen, die etwas zu sagen haben. Um den Glauben zu nähren und die Zweifel in Schach zu halten.

In diesen Tagen läuft sozusagen die heiße Phase, die das bedeutendste Fest des Kirchenjahres einläutet. Leid, Dunkelheit, Einsamkeit, Verzweiflung. Und schließlich Auferstehung und die Überwindung des Todes. Was für eine Botschaft! „Ostern ist die Mitte meines Glaubens“, sagt Alexander Röder.

Soeben hat er die Andachtsbesucher verabschiedet. Die letzten Touristen haben schon kurz nach 17.30 Uhr den Michel verlassen. Jetzt ist es wieder still geworden in diesem imposanten Gotteshaus, das mit der Weite des Raumes und der hellen Farbgebung gleichzeitig Festlichkeit und Geborgenheit ausstrahlt. Man kann auch sagen: Diese Kirche ist wunderschön, aber jede Prahlerei ist ihr fremd. Was sicher auch an ihrer Geschichte liegt.

Wenn Hamburg das Tor zur Welt ist, könnte der Michel das Tor zu Gott sein

„Gott der Herr ist Sonne und Schild.“ So lautet der Wahlspruch der St.-Michaelis-Kirche, mit deren Bau westlich der auf dem Krayenkamp gelegenen alten Friedhofskapelle 1648 begonnen wurde und deren markanter, von Peter Marquard entworfene 123 Meter hohe Turm 1669 vollendet war. Warum dieser Psalm Wahlspruch geworden ist, weiß Röder auch nicht. Aber er weiß, dass über dieses Bibelwort bei der Grundsteinlegung der Kirche im Jahr 1661 gepredigt wurde.

Hamburg hatte während des Dreißigjährigen Krieges zahlreiche Flüchtlinge aus Europa in seinen schützenden Mauern aufgenommen. Viele Calvinisten aus den Niederlanden. Der Michel, sagt Röder, sollte damals wohl vor allem „eine Art feste Burg des Luthertums sein“. Hell strahlen und auch Schild sein. Zufluchtsort.

Heute ist der Michel eine Stätte für alle. Wenn Hamburg das Tor zur Welt ist, sagen viele, dann könnte der Michel das Tor zu Gott sein.

Eine der riesigen Glocken, die beim
Turmaufstieg zum Greifen nahe sind
Eine der riesigen Glocken, die beim Turmaufstieg zum Greifen nahe sind © HA | Roland Magunia

Tobias Jahn ist der Türöffner. Der Herr der Schlüssel sozusagen. 55 Jahre alt, Hamburger, Küster. Einer von dreien im Michel, die so eine Art Alleskönner sind. Handwerker, Organisator, Ansprechpartner, Aufpasser, Gottesdienstvorbereiter. Wie wird man Küster im Michel? „Wie kommt die Jungfrau zum Kinde?“, fragt er zurück. Kurze Haare, runde Brille, forsches Auftreten. Manchmal verlässt Tobias Jahn seinen gläsernen Arbeitsplatz gleich vorn rechts neben dem Haupteingang, um einen Besucher freundlich, aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass Filmen im Michel während der Andachten nicht gestattet ist.

Jahn, gelernter Kfz-Mechaniker, suchte nach acht Jahren bei der Bundeswehr eine Anstellung und erfuhr zufällig, dass gerade eine von drei Küsterstellen im Michel frei wurde. 1992 war das. „Wussten Sie, was ein Küster macht?“ Er lächelt: „Überhaupt nicht.“

Heute kennt er den Michel besser als jeder der drei Pastoren. Weiß, was sich hinter jedem Winkel verbirgt. Er führt durch den unterirdischen Gang mit den kilometerlangen Leitungen und Kabeln rund um die Gruftanlagen. Während der Michel-Sanierung vor acht Jahren, als auch die zum Teil 90 Jahre alte Technik der Elektro- und Heizungsanlage grunderneuert wurde, hat man hier unten 21 Kilometer Starkstrom- und neun Kilometer Datenkabel verlegt. Die Kirche bekam auf 10.000 Quadratmetern einen neuen Anstrich. Die Teakholzbänke wurden neu lackiert, die Ablagen des Senatsgestühls mit Pariser Samt bezogen. Leisten, Stuckaturen und Bekrönungen der Schmuckfenster wurden mit Doppeldukatengold nachvergoldet.

Auch das Dach wurde saniert. Tobias Jahn führt uns über den gewaltigen Dachboden durch eine Tür, dahinter verbirgt sich das riesige Fernwerk. Ein für Besucher unsichtbares Orgelwunder, das von der Empore aus gespielt wird. Es hat 17 Register und 1222 Pfeifen. Die Töne finden ihren Weg durch einen 20 Meter langen Schallkanal, der zur Deckenrosette in 26 Metern Höhe führt. Sie erklingen durch ein Schallloch hoch oben in der Kirchendecke, das gleichzeitig als Entlüftungs- und Entrauchungsöffnung funktioniert.

Für Tobias Jahn ist sein Job im Michel „eine Berufung“. Seine Frau sagt ihm manchmal, dass er ja eigentlich mehr mit dem Michel als mit ihr verheiratet sei. Einmal, als er Geburtstag hatte, haben sie nur für ihn von der Empore herunter ein Ständchen gespielt. Manuel Gera, einer der beiden Kirchenmusikdirektoren, saß an der Orgel. Und Josef Thöne, der Türmer, blies auf der Trompete. Da, sagt Tobias Jahn, habe er vor Rührung ein paar Tränen vergossen. Ganz allein saß er unten im Kirchenschiff.

Tobias Jahn an den Grundmauern des Turms beim Rundgang durch die
unterirdischen Gänge. Der Michel-Küster
kennt in dem Gebäude jeden Winkel
Tobias Jahn an den Grundmauern des Turms beim Rundgang durch die unterirdischen Gänge. Der Michel-Küster kennt in dem Gebäude jeden Winkel © HA | Roland Magunia

Wir machen uns auf den Weg nach oben. Der Fahrstuhl braucht nur 30 Sekunden für die 103 Meter. Auf dem Turm haben sich heute nur wenige Touristen versammelt. Es ist neun Uhr abends. Ein kalter Wind bläst durch die hohen Gitterstäbe. Die Stadt liegt uns funkelnd zu Füßen. Ein imposantes Lichtermeer mit zahlreichen Fixpunkten beim abendlichen Rundgang auf der Plattform. Die Elbe und die großen Schiffsdocks, Tanzende Türme am Eingang der Reeperbahn, Fernsehturm, Alster, Rathaus, Nikolaikirche, Speicherstadt-Ensemble, Elbphilharmonie. Und dann wieder von vorn.

Auf der Plattform finden bis zu 200 Besucher Platz. „100 in der ersten Reihe“, sagt Dirk Bobsin. Er hat den Michel, wenn man so will, zu nächtlichem Leben erweckt. Von der Mitte des Turms geht es noch einmal ein paar Treppen nach oben. 109 Meter über dem Boden hat man einen atemberaubenden Blick ohne störenden Zaun. „Hamburgs höchste 360-Grad-Plattform“, sagt Dirk Bobsin.

Der Veranstaltungsprofi hat sich den „Nachtmichel“ ausgedacht. Und so dafür gesorgt, dass das Wahrzeichen seit knapp zehn Jahren meist bis 22.30 Uhr, von Mai bis Oktober sogar bis 23.30 Uhr zu befahren ist. Etwas tiefer kann gefeiert werden. „Geburtstage, Weihnachtsfeiern oder Firmenempfänge in historischen Turmräumen“, sagt Bobsin. Auf rustikalen Tischen stehen Kerzenständer, es gibt einen Tresen und eine Videoleinwand.

„Sehr beliebt sind Heiratsanträge auf dem Michel“, sagt Bobsin. Die Paare kämen aus der ganzen Welt, um über den Dächern Hamburgs um die Hand des Partners anzuhalten. „Der oder die weiß von nichts“, sagt Bobsin. Oft fließen dann Tränen, bevor die Verliebten sich an den gedeckten Tisch setzen und mit einem Glas auf die hoffentlich himmlische Zukunft anstoßen.

Um fünf Uhr früh erscheint die erste Putzkraft, eine Stunde später der Küster

Anschließend geht Dirk Bobsin mit den Gästen manchmal noch in die Kirche. Damit niemand vergisst, dass es sich beim Michel in erster Linie um eine Kirche handelt. Auf die laute Feier folgt dann meist stilles Staunen über die Pracht. Über die Orgeln, den Altar und die geschwungenen Emporen.

Dorel Reiß war acht, als sie im Bombenhagel von 1943 hier in der Krypta Zuflucht
suchte. Für sie und viele andere wurde der Michel zum Lebensretter
Dorel Reiß war acht, als sie im Bombenhagel von 1943 hier in der Krypta Zuflucht suchte. Für sie und viele andere wurde der Michel zum Lebensretter © Stephan Wallocha

Es ist inzwischen nach Mitternacht. Allein in der Krypta. 44 gedrungene Säulen und ein wundervolles Lichtkonzept machen aus dem Toten- ein Schattenreich. Küster René Zetlitzer hat das unterirdische Gewölbe, diese einzigartige Gruftanlage mit insgesamt 268 bis zu vier Metern tiefen Grabkammern, aufgeschlossen. Und nun ist es still. Es ist paradox: Der nächtliche Rückzug hinter die meterdicken Kirchenwände, allein gelassen in einer Gruft mit rund 2000 Verstorbenen, erlaubt den weiten und klaren Blick auf die Welt da draußen.

Eine fast berauschende Stille, um Gedanken zu finden, die es nicht im Kaufhaus gibt. Es ist wie immer beim Älterwerden. Die Fragen nehmen zu, die Antworten werden hinterfragt. Was war am Anfang? Woher kommen wir? Was ist der Weg? Was ist unsere Bestimmung? Gibt es jenseits zufälliger Existenz eine Ordnung? Und, gerade an diesem Ort, in beinahe spürbarer Nähe zu den Toten, und in dieser österlichen Zeit, drängt sich eine Frage nach vorn: Gibt es ein Leben danach?

„Religion ist die Verehrung der unbekannten Kraft, die die Weltgesetze lenkt und die Grundformen des Seienden erhält“, schrieb der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840–1917), mit dem das Zeitalter der modernen Skulpturen begann. „Sie ist die leidenschaftliche Sehnsucht nach Unendlichkeit, Ewigkeit, nach tiefstem Wissen und grenzenloser Liebe – Verheißungen, die unserem Denken Schwerkraft verleihen“. In diesem Sinne, so Rodin, sei er religiös.

Die Nacht verwandelt den Michel in einen klugen Begleiter.

Es gab Nächte, in denen der Michel zum Lebensretter wurde.

Wenn Dorel Reiß, 81, davon erzählt, weiß sie, dass sie in der kommenden Nacht wieder nicht in den Schlaf finden wird. Weil sie es zugelassen hat, dass die grauenvollen Bilder erneut von ihr Besitz ergreifen. Sie hat sich trotzdem noch einmal in die Krypta begeben. Es geht schließlich um „ihren“ Michel. Und es dürfte nicht viele Menschen geben, die eine engere Beziehung zu Hamburgs Wahrzeichen haben.

Die Kirchenführerin Eva Brandt (2. v. r.) mit einer Besucherinnengruppe beim
Rundgang durch den Michel, im Hintergrund die große Orgel auf der Empore
Die Kirchenführerin Eva Brandt (2. v. r.) mit einer Besucherinnengruppe beim Rundgang durch den Michel, im Hintergrund die große Orgel auf der Empore © HA | Roland Magunia

Dorel Reiß war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter, ihrer Oma und den beiden Geschwistern in einem Luftschutzbunker am Hafen saß. Es war die Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943. Dort wurden sie nach den ersten Angriffen rausgeholt. Einsturzgefahr! Und auseinandergerissen, als Hunderte ins Freie drängten. „Plötzlich hatte ich nur noch meinen zwei Jahre älteren Bruder an der Hand.“ Aber auch der war irgendwann weg, als der brennende Phosphor auf sie zukroch und ihre Holzschuhe in Brand setzte.

„Das kann sich heute keiner mehr vorstellen“, sagt Reiß. Bombengewitter, ohrenbetäubender Lärm, grelle Blitze, grauenhafte Hitze. Viel zu viel für Kinderseelen. Sie leidet immer noch. Und ganz aktuell wieder mit den Abertausenden Flüchtlingskindern.

Ein Mann hob sie hoch und brachte sie zur Polizeiwache, wo sie verbunden wurde. „Dann wollte er mich zu einem Sanitätswagen bringen, der zum Michel fuhr.“ Aber der Wagen war überfüllt. Und fuhr ohne sie ab. Wenig später geriet das voll besetzte Auto auf einen Blindgänger und explodierte. „Siehst du, min Deern, du bist noch nicht dran“, sagte ein Feuerwehrmann, nahm sie auf den Arm und trug sie zum Michel. Dorel Reiß kam nach unten in die Krypta. Zitternd, verdreckt, ein kleines Häuflein Elend. „Aber in vollkommener Geborgenheit. Behütet und sicher“, sagt sie. Wenig später fand sie ihre Mutter. „Die hatte zuvor zwei Frauen, die in den Wehen lagen, geholfen, in der Krypta ihre Kinder zur Welt zu bringen.“

Was ist der Michel heute für sie? „Mein Schutz und mein Zuhause, mein Ruhepunkt und meine Tankstelle“, sagt Dorel Reiß. Und Kirche der Engel. „Meine Oma hat immer gesagt, mein Schutzengel ist da, wo der liebe Gott wohnt – und der wohnt ja im Michel.“

Noch heute erinnert sie sich an das Gemurmel der Menschen in der Krypta in der ersten Nacht der Operation „Gomorrha“. Und an den Geruch aus Angst und Schweiß, der sie nie wieder losgelassen hat. Später hat Dorel Reiß im Michel ihren Mann geheiratet. Und sich für die neuen Uhrenglocken engagiert, die während des Ersten Weltkrieges für Kriegszwecke eingeschmolzen wurden. Und nun nach 98 Jahren wieder aufgehängt werden. Dazu beigetragen hat auch ein Michel-Wimmelbild, das gleich links neben dem Eingang zur Krypta ausgestellt ist. Dorel Reiß ist die Dame, die ihre linke Hand an eine der beiden Glocken hält.

Kirchenmusikdirektor Christoph Schoener am Zentralspieltisch auf der Empore. Von
hier aus kann er die große Orgel (l.), die Konzertorgel (r.) und das Fernwerk spielen
Kirchenmusikdirektor Christoph Schoener am Zentralspieltisch auf der Empore. Von hier aus kann er die große Orgel (l.), die Konzertorgel (r.) und das Fernwerk spielen © HA | Roland Magunia

Die Nächte im Michel sind voller Gedanken und Geschichten. Und nicht sehr lang. Um fünf Uhr morgens kommt die erste Putzkraft zum Reinigen von Krypta und Kirchenschiff. Eine Stunde später beginnt der Küster seinen Dienst. Von November bis April öffnet die Kirche um zehn Uhr morgens für Besucher.

15 Minuten vorher wartet Josef Thöne am Luther-Denkmal. In wenigen Minuten, um Punkt zehn Uhr, wird er vom 7. Turmboden aus in 82,5 Meter Höhe in alle vier Himmelsrichtungen einen Choral auf der Trompete über die Stadt blasen. „Den hört man bis zu drei Kilometer weit“, sagt er. Thöne ist, wenn man so will, der Mann mit den höchsten Tönen in der Stadt. Er wurde 1959 in Warburg geboren und hat in Hamburg sein Examen als Konzerttrompeter und Musiklehrer gemacht. Heute unterrichtet er an der staatlichen Jugendmusikschule. Als Student wohnte Thöne direkt beim Michel und kam irgendwann mit Hans-Heinrich Fiedler ins Gespräch. Der war Türmer und zugleich auch Küster im Michel. Im August 1992 übernahm Josef Thöne zusammen mit seinem Kollegen Horst Huhn den Job des Turmbläsers.

Dieser Brauch, während der Reformation in Hamburg eingeführt, wird seit mehr als 300 Jahren auch am Michel praktiziert. Tag für Tag. Morgens um zehn und abends um neun.

Josef Thöne kommt gern hier hoch. Genießt den Blick über die Stadt, der sich immer wieder verändert. Er sagt, dass viele Dinge, die einen unten auf der Erde belasten, hier oben von einem abfallen. Oder zumindest zu Nichtigkeiten werden.

Was passiert da? „Das ist eben auch eine Art des Glaubens“, sagt Josef Thöne. Wenn man für diese Art der Spiritualität nicht offen sei, könne man den Job nicht machen. Ja, er spiele seine Töne auch zum Lobe Gottes. Thöne findet es wichtig, dass die Kirche, gerade in diesen Zeiten der großen allgemeinen Verunsicherung, den Menschen Orientierung bietet. „Der Michel ist auch Halt.“

Um 10 und um 21 Uhr bläst Josef Thöne
auf der Trompete vom Michel-Turm
Um 10 und um 21 Uhr bläst Josef Thöne auf der Trompete vom Michel-Turm © HA | Roland Magunia

Und dazu trägt Josef Thöne jeden Tag bei. Er spielt für die Menschen in dieser Stadt. Für die Obdachlosen, die sich abends unten versammeln, wenn der Mitternachtsbus hier Station macht und heiße Getränke und Brötchen bringt. Einer hat ihm einmal gesagt, dass er mit der Kirche nichts am Hut habe. „Aber Ihr Trompetenspiel ist klasse und gibt mir was.“ Thöne spielt auch für die alte Frau im Hafenkrankenhaus, die sich vor Jahren zum Geburtstag von ihm ein Ständchen gewünscht hat. Da haben sie bei der Jubilarin in der einen Kilometer entfernten Klinik die Fenster geöffnet, und dann schwappte die Melodie vom Turm herüber ins Krankenzimmer.

In der Kleiderkammer werden zweimal pro Woche Hosen und Pullover verteilt

Thöne weiß, was Musik für Kraft hat. Und dass sie vielen Menschen Zugang verschafft zu Dingen, die nicht in Worte zu fassen sind. „Manche fühlen sich von einem zweiminütigen Choral angesprochen, andere von einer dreistündigen Matthäus-Passion.“

Über jedem der vier Fenster im 7. Turmboden ist eine Uhr. Noch 15 Sekunden bis zehn. Thöne hat sich einen Choral ausgesucht, legt das Gotteslob auf den Notenständer vorm Ostfenster und öffnet die kleine Klappe. „Aus meines Herzens Grunde sag ich dir Lob und Dank, in dieser Morgenstunde dazu mein Leben lang.“ Thöne sagt, es sei zwar Passionszeit, wo es eher um Fasten und Verzicht geht, aber er hat heute trotzdem eine fröhliche Melodie ausgesucht. Blauer Himmel, weiter Blick, der Frühling kündigt sich an. Da will er auch musikalisch mithalten.

Seinen Job als Türmer, direkt neben der größten Turmuhr Deutschlands, sieht er auch als ein Privileg. „Ich habe großen Respekt davor, dass es diesen Brauch am Michel seit drei Jahrhunderten gibt.“ Für ihn ist das auch ein buchstäblich überragendes Zeichen dafür, dass die Menschen nach Orientierung suchen. Dass ihnen Dinge wichtig sind, die man nicht auf den ersten Blick erklären kann. Die irgendwo zwischen Himmel und Erde stattfinden.

Der Türmer hat alles überstanden. Als der Michel samt Turm 1906 durch einen Brand bei Dacharbeiten abgebrannt ist, hat die Gemeinde flugs ein Holzgerüst gebaut, auf dem der Trompeter dann seine Choräle geblasen hat. Fünf Jahre lang, bis zur Einweihung des neuen Turms 1912, zu der sogar Kaiser Wilhelm II. erschien.

Schon einmal zuvor, am 10. März 1750, war der Michel bei einem schweren Gewitter durch einen Blitzeinschlag bis auf die Grundmauern niedergebrannt. „Und auch in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges ist hier jeden Abend der Türmer hinaufgeklettert und hat auf seiner Trompete Choräle gespielt“, sagt Josef Thöne.

24 Stunden Michel,
Mittwoch,
9. März 2016:
Hauptpastor Alexander
Röder in der
Passionsandacht
24 Stunden Michel, Mittwoch, 9. März 2016: Hauptpastor Alexander Röder in der Passionsandacht © HA | Roland Magunia

Es sind Geschichten wie diese, die bei den Michel-Besuchern auf großes Interesse stoßen. Und Eva Brandt ist die Frau, die auf jede Frage eine Antwort hat. Die ehrenamtliche Kirchenführerin steht um 14 Uhr mit einer Frauengruppe im Michel und erklärt die in den Kirchenraum ragende gewaltige Kanzel, die für die Bedeutung der Predigt steht. „Der 20 Meter hohe Altar wurde nach dem Brand 1906 im neobarocken Stil erbaut“, sagt sie. Das Altarbild von 1911, der auferstandene Christus, beinhaltet die Kernbotschaft des Glaubens: Christus hat den Tod besiegt.

Weiter geht es zum Taufstein aus weißem Marmor, eins von nur noch zwei Relikten aus der Barockkirche von 1762. Das andere ist der sogenannte Gotteskasten, den Michel-Erbauer Ernst Georg Sonnin (1713–1794) der Gemeinde geschenkt hat. Darin wird Geld für Bedürftige gesammelt.

Dass der Michel die weniger Betuchten nicht aus dem Blick verliert, dafür sorgt Simon Albrecht, 33. Als der Diakon vor sieben Jahren in der Michaelis-Gemeinde anfing, wollte er die Arbeit mit den Senioren umgestalten. Weg vom reinen Kaffeekränzchen, hin zum aktiven Mitmachen. „Die älteren Menschen können sich einbringen, mit Körper, Geist und Seele“, sagt Albrecht. So wurde aus der Kleiderkammer am Krayenkamp „Jack un Büx“. In zwei Räumen gibt es gespendete und auch neuwertige Klamotten und Schuhe in vier Wertkategorien. Die günstigsten sind mit einem gelben Punkt (2–3 Euro) gekennzeichnet, die teuersten mit einem weißen (14–15 Euro). Ehrenamtliche Mitarbeiter sortieren und verteilen zweimal in der Woche Hosen und Mäntel, Pullover und Kleider.

Der Michel ist für Albrecht nicht nur Kirche und Wahrzeichen, sondern auch „Raum für soziales Miteinander“. Es gebe in dieser Gemeinde ein extremes Spannungsfeld zwischen gut situierten Mitgliedern und vor allem vielen Älteren, die „sehr, sehr wenig Geld“ haben. Was alle eint, sei eine beinahe „zärtliche Beziehung“ zum Michel.

Christoph Schoener, 62, sorgt dafür, dass vielen Michel-Besuchern warm ums Herz wird. Der Kirchenmusikdirektor hat seine Straßenschuhe gegen schmalere mit Ledersohlen getauscht und sich oben auf der Empore an den Zentralspieltisch gesetzt. Es sei ein unglaubliches Privileg, sagt er, seiner Arbeit und seiner Leidenschaft an einem der bedeutendsten Orte evangelischer Kirchenmusik nachgehen zu können. Oder besser: zu dürfen.

Pro Tag kostet es 10.500 Euro, diegrößte Kirche Hamburgs zu erhalten

Das Orgelensemble im Michel ist grandios. Und erschließt sich dem Laien erst nach einem intensiven Nachhilfekursus mit dem nachsichtigen Experten. Fünf Orgeln – große Orgel, Fernwerk, Konzertorgel, Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel und Krypta-Orgel – erlauben die musikalische Gestaltung der unterschiedlichsten Gottesdienste und Konzerte. Die ersten drei kann Schoener von diesem Spieltisch aus erklingen lassen.

Wofür braucht eine Kirche fünf Orgeln? „Wofür brauchen wir die 9. Sinfonie von Beethoven?“, lautet Schoeners Gegenfrage. Das heutige Orgel-Ensemble sei „ein über Jahrhunderte gewachsener Zustand“ und ein „sehr glücklicher Umstand“. Schoener sagt, er sei eher Purist und möge keinen Firlefanz. Im Michel jedoch habe er durch die verschiedenen Orgeln die Möglichkeit, den Raum ganz anders mit Musik zu füllen „und die Leute gefangen zu nehmen“. Sie zu fesseln mit „der Königin der Instrumente“. Denn die Orgel sei wie kein anderes Instrument in der Lage, die klangliche Vielfalt eines Orchesters darzustellen. Und mit seiner Spielkunst trägt der Organist und Chorleiter entscheidend dazu bei, dieses Gotteshaus zu öffnen.

„Den Michel zu erhalten und mit Leben zu füllen ist eine gewaltige Aufgabe“, sagt Alexander Röder. Wir treffen ihn am nächsten Abend noch mal in der geräumigen Sakristei, die rechts vom Altarraum abgeht. Hohe Wände, gewölbte Decke, ein kleiner Altar unter einem riesigen Bildfenster aus den 1920er-Jahren. 3500 Mitglieder umfasst seine Gemeinde. Mehr als 500 Gläubige engagieren sich ehrenamtlich. An 365 Tagen im Jahr. Bei mehr als 500 Gottesdiensten, 120 Konzerten und Gruppenangeboten. 10.500 Euro kostet es pro Tag, den Michel zu erhalten. „Aus Spenden und Kollekten müssen wir 1950 Euro pro Tag aufbringen.“

Der Michel-Haushalt, der rund 35 Mitarbeitern einen Arbeitsplatz garantiert, verschlingt 2,5 Millionen Euro im Jahr. „15 Prozent sind durch Kirchensteuern gedeckt.“ Der Rest wird durch Spenden aufgebracht. 550.000 Euro betrugen im vergangenen Jahr die Einnahmen der Michel-Stiftung.

Alexander Röder war vier Jahre alt, als sein Vater starb. Er sagt, er habe jeden Tag in seinem Leben gebetet. Manchmal kniend vorm Bett der Großmutter. Das fand er nicht so doll. Röder sagt, er habe nie daran gezweifelt, dass es Gott gibt. Auch nicht, als er realisiert hat, dass er ohne Vater aufwachsen muss. „Ich habe nach dem Warum gefragt, aber erst, als ich älter war“, sagt er. „Aber Gott die Schuld für den Tod meines Vaters zu geben kam mir als Gedanke nicht.“ Gottesferne ist ihm fremd. „Hoffentlich bleibt das so.“

Er weiß noch, was das Thema seiner Predigt war, als er am 1. September 2005 in das Amt des Hauptpastors eingeführt wurde: „Die Kirche wächst.“ Das sei natürlich eine Provokation gewesen. Aber es ist sein Denken. Die reinen Zahlen sagten nichts über die Lebensrealität in seiner Gemeinde aus.

Einer von vielen Gemeinden in Hamburg. Und doch ragt sie heraus. Sie schöpft ihre Kraft auch daraus, dass ihre vielen engagierten Mitglieder in einem Gebäude wirken, mit dem sich die Hamburger wie mit keinem anderen in der Stadt identifizieren.

Für viele ist der Michel auch Mahnmal. Gegen die Beliebigkeit und den ständigen Spurwechsel auf der komplizierten Suche nach dem Glück, wenn es mal wieder nicht sofort nach Wunsch läuft. Zugleich ist der Michel der weithin sichtbare architektonische Aufstand gegen Langeweile und Normalität. Ein paarmal gefallen und zerstört, immer wieder auferstanden. Nicht totzukriegen.

Und natürlich war das immer vor allem eine Glaubensfrage.

Alexander Röder hat zwei Lieblingsorte in der Kirche. Einmal im Altarraum mit Blick auf die große Orgel. Und dann dort oben mit dem Blick in das Kirchenschiff, der begrenzt wird durch die Emporen, die sich „wie große Arme um die Gemeinde legen“.

Röder sagt: „Glaube öffnet Räume. Denn Glaube ist mehr als Wissen.“