Hamburgs bekannteste Kiezkneipe – eine Fundgrube für unglaubliche Geschichten. Chefreporter Jens Meyer-Odewald hat sie aufgeschrieben.

Er war Mitbegründer und Macher der Ritze, ein König von St. Pauli, ein harter Hund mit menschlichem Antlitz und einnehmendem Wesen. Hanne Kleine mag alles Mögliche gewesen sein, Lebemann und Filou, Hallodri und Schwerenöter mit oft schlagkräftigen Argumenten, ein Mensch von der Stange war er auf keinen Fall.

Eigentlich hieß Hanne mit richtigem Namen Hans-Joachim Kleine. Seine Mutter, eine Friseurmeisterin mit eigenem Salon, nannte ihn Hansi. Er wuchs in Staßfurt auf, einem Städtchen im Salzlandkreis bei Magdeburg, in der damaligen DDR also.

Sein Mütchen kühlte Hans-Joachim bei Prügeleien auf dem Schulhof und nachmittags im Schatten der Plattenbausiedlungen, aber dazu auch in geregeltem Rahmen: Schon mit neun Jahren hatte der Junge erstmals im Ring gestanden. Der Boxsport interessierte ihn mehr als Mathematik und vor allem Politikunterricht im heranwachsenden Arbeiter- und Bauernstaat. Immerhin schaffte er die Lehre zum Friseurgesellen. Er selbst bestach als Teenager mit einer Föhnfrisur vom Feinsten.

Die Mauer stand noch nicht. Hanne Kleine wechselte in den Westen der geteilten Stadt. Dort kam er 1954 noch größer heraus, belegte bei den Deutschen und Europa-Meisterschaften hervorragende Platzierungen. Insge-samt bestritt Hans-Joachim Kleine 300 Fights und zählte zu den Stars seiner Sportart. Kleine kehrte 1955 in die ostdeutsche Auswahl zurück. Dreimal pendelte er so. Das ging nur gut, weil der Mann starke Leistungen brachte. Denn 1958 trat er wieder bei den Deutschen Meisterschaften in Dortmund an, im Westen also.

Ein von Hannes Witwe Kirsten Kleine verwahrtes Fotoalbum mit dunkelbraunem Einband dokumentiert die erstaunliche Sportkarriere. Schwarz-Weiß-Bilder, Zeitungsausschnitte und Widmungen verweisen auf beeindruckende Kämpfe und kameradschaftliche Erlebnisse. Zu sehen ist Hanne im Trainingsanzug der DDR-Auswahl, in Reihen der DDR-Staffel in Moskau, während der Sport-Internationale vor irgendeinem Plattenbau, aber auch privat mit Freunden – und oft mit einem Akkordeon auf dem Schoß.

Der Mann, der das süße Leben so liebte, verdingte sich anschließend als Schlackenabkratzer im Duisburger Hafen – der Kohle wegen. „Es war der Tiefpunkt meines Lebens“, gab Hanne Kleine später zu Protokoll. Weil er dort richtig malochen musste.

Das Geld war schneller verprasst als verdient. Im Gespann mit halbseidenen Kumpeln tauchte Kleine in das Nachtleben des Ruhrgebiets ein. In ihm reifte die Erkenntnis: Im Milieu ist leichter Geld anzuschaffen.

Bei ihr ging Hanne Kleine dauerhaft vor Anker: Kirsten Kleine
ist heute die Ritze-Chefin
Bei ihr ging Hanne Kleine dauerhaft vor Anker: Kirsten Kleine ist heute die Ritze-Chefin © Stephan Wallocha

Mit Biss, Schlagkraft und Wagemut brachte er ein Bein auf den hart umkämpften Boden, bald zwei. Die Methoden waren nicht immer sanft. Für drei Monate wurde Kleine aus dem Verkehr gezogen und hinter Gitter gesperrt.

Durch Kontakte zu den Baronen des Milieus kam er 1967 als „Frankfurter Hanne“ nach Hamburg. Anfangs wollte er in der Hansestadt nur ein paar Freunde besuchen, doch kam alles ganz anders. Letztlich war es der St.-Pauli-Pate „Frieda“ Schulz, der ihm den Weg ins lokale Geschäft ebnete. Dass diese Gunst ihren Preis hatte, verschwieg Kleine gerne. Ohnehin war für ihn Diskretion Ehrensache. Niemand weiß, wie viele Geheimnisse er im November 2011 mit ins Grab genommen hat.

Hanne und Domenica galten drei Jahre lang als ein Paar

Zurück ins Jahr 1967. Als Portier in Charly’s Nightclub am Hamburger Berg auf St. Pauli stieg der 35-Jährige ein. „Eines Tages kam das Angebot, günstig einen Puff zu kaufen“, berichtete der „Frankfurter Hanne“ später. Er nahm an – und einen Kredit bei „Frieda“ Schulz auf, seinem Mentor. Bald gehörte ihm eine Etage im Bordell Palais d’Amour an der Reeperbahn, direkt neben der Ritze. Kleine selbst sprach von „acht bis zehn Zimmern“ mit in etwa der doppelten Zahl von Prostituierten. Zeitweise besaß er auch Beteiligungen an Bars und „ein paar Prozent an einem Spielcasino“. Verluste gab es selten. Im offiziellen Sprachgebrauch führte er sein Business als „Gastronomie und Zimmervermietung“.

Kleine wirkte unter der Prämisse: kein Rauschgift, keine harten Waffen wie Messer oder Pistolen, keine Beteiligungen an Bandenkriegen, Zoff mit der Polizei nur im Extremfall. Unter diesen Vorzeichen kam er weit. Und kaum einer außerhalb des Milieus wusste, dass Hanne Domenica, die Frau mit der ausladenden Oberweite, zum Umzug nach Hamburg bewegte und schüt-zend seine Hand über sie hielt. Etwa drei Jahre galten beide als ein Paar – wie auch immer.

Domenica arbeitete als Hure in der Herbertstraße und kombinierte zwei Eigenschaften: Als Domina favorisierte sie die harte Gangart, privat war sie ein liebenswerter Mensch mit empfindsamer Seele. Sie besaß später eine Kneipe, organisierte Kunstausstellungen, schmückte Partys mit ihrer Anwesenheit. Als Domenica Niehoff 2009 starb, trug der Kiez Trauer. Bei ihrer Beerdigung war „halb St. Pauli“ präsent.

An der Fotowand: Wirt Hanne Kleine mit Immobilienmogul
Willi Bartels, dem „König von St. Pauli“
An der Fotowand: Wirt Hanne Kleine mit Immobilienmogul Willi Bartels, dem „König von St. Pauli“ © Stephan Wallocha

Hanne Kleine durfte noch zwei Jahre länger auf der Erde verweilen. Bei Frauen galt es nicht immer, doch dem Boxsport war der Ritze-Boss lebenslang treu. Er hielt Kontakt zu vielen Stars der Szene, lud die Großen in sein Lokal ein, besuchte regelmäßig Kämpfe. Der Boxkeller unter seiner Kneipe war und ist das Mekka dieser Sportsparte (mehr darüber in der nächsten Folge). Viele Jahre war Kleine Präsident des Boxclubs Hanseat.

Seinen Wahlspruch lebte er intensiv aus: „Ein Kneipier, der nicht trinkt, ist wie ein Bademeister, der nicht schwimmen kann.“ Nicht nur Freunde wussten: „Hanne brannte stets wie eine Kerze – nur an beiden Seiten.“ Und: „Er hat sein Leben dreimal gelebt.“

Am 4. November 2011, um drei Uhr nachts, erlag Hanne Kleine im Alter von 79 Jahren einer schweren Wundin-fektion. Die Beerdigung eine Woche später, an einem Freitagnachmittag, war einer Persönlichkeit würdig, die Kiezgeschichte in Hamburg geschrieben hat.

Die Trauerredner betonten seine „unbedingte Verlässlichkeit“

450 Trauergäste erwiesen ihm in Ohlsdorf die letzte Ehre. Die Fritz-Schumacher-Halle des Friedhofs war überfüllt; Monitore übertrugen die Andacht in den Vorraum der Kapelle. Auf dem Parkplatz standen Rolls-Royce, andere schwere Limousinen und ein Hummer. Nicht nur die Hamburger Gesellschaft war präsent, sondern auch führende Köpfe der deutschen und europäischen Rotlichtszene.

Der schwere Eichensarg war mit dem Schriftzug „Zur Ritze“ geschmückt. Daneben stand ein Bild des jungen Boxers Hans-Joachim Kleine. Auf einer Schleife an einem weißen Rosenkranz hatte Witwe Kirsten Kleine ihre Gefühle so ausgedrückt: „Ich habe dich immer geliebt, werde dich immer lieben und in meinem Herzen tragen.“ Dort war auch sie bei ihm zu Hause. Denn vorher hatte es Hanne fraglos heftig getrieben, doch seit Kirstens Eintritt in sein Leben hatte sich alles geändert.

Die Trauerredner betonten Hanne Kleines „unbedingte Verlässlichkeit“, seinen Humor, seine Ehrbarkeit und Aufrichtigkeit. Während der Trauerfeier erklang Udo Lindenbergs „Ich schwöre“. Diesen Text hatte der Panikrocker einst in der Ritze verfasst. „Nach Hanne wird es keinen Großen mehr auf St. Pauli geben“, sagte Udo. „Das große, ehrenwerte Geschäft ist zu Ende.“