Hamburg. Hamburgs bekannteste Kiezkneipe – eine Fundgrube für unglaubliche Geschichten. Chefreporter Jens Meyer-Odewald hat sie aufgeschrieben.
Die wahrscheinlich berühmtesten Beine der Stadt, das schon mal vorweg, gehören eigentlich einer Hamborger Deern namens Gisela. Auch sonst ranken sich viele kleine Geheimnisse und skurrile Anekdoten um eine Kneipe, deren Name Programm ist. „Zur Ritze“, diese Kaschemme steht für Hautgout vom Feinsten, für durchgemachte Nächte, für eine faszinierende Mixtur aus High Society, Untergrund und ganz normalen Zechbrüdern, die auf ein oder zwei Bier eintauchen möchten in das Herz St. Paulis. In dieser Hinterhof-Spelunke wurde schon Kiezgeschichte geschrieben. In vielen Filmen, nicht nur im „König von St. Pauli“ oder im „Großstadtrevier“, spielt sie eine Rolle, auch ein Musical wurde ihr zu Ehren aufgeführt. Hier textete Udo Lindenberg einige seiner berühmten Songs. Und ein spezielles Ritze-Lied gibt’s auch. Hier wurden Orgien gefeiert, von denen Otto Normalverbraucher nur träumen kann.
In Fachkreisen des Milieus wird gestritten, wann die Ritze genau an den Start ging. Denn Buch geführt wurde in den Gründerjahren nicht, warum denn auch? Wer konnte Anfang der 1970er-Jahre schon ahnen, dass aus dem ehemaligen Pissoir des Großbordells Palais d’ Amour, geplant für Huren und ihre Freier, eines Tages eine Kiezinstitution werden sollte?
Am Anfang ohne Mietvertrag – ein Handschlag wog schwerer
Aktuell schauen Wochenende für Wochenende gut 1500 Neugierige hinein, um sich persönlich davon zu überzeugen, was sich hinter den gespreizten Schenkeln verbirgt. Nicht nur für immer mehr geführte Kieztouren ist die Ritze ein Magnet. Und alle 14 Tage, immer montags, trifft sich der Sparclub. Ganz bürgerlich. Auch das hat Tradition.
Kiez-Kaufmann Günter Stumm alias „Stummi“, der mit Bordellen eine Menge Penunze machte und viel später in Übersee dahinschied, suchte einen handfesten, auf dem Kiez geerdeten Partner für die Ritze. Mit dem Boxchampion Hans-Joachim „Hanne“ Kleine, der sich aus der DDR in den Westen abgesetzt hatte, fand er schließlich die Idealbesetzung. Die beiden verständigten sich darauf, halbe-halbe zu machen. Handschlag drauf.
Die Rechnung ging zusehends auf: Die Pinte, in einem düsteren Gang neben dem Großbordell nicht gerade verkehrsgünstig gelegen, machte sich auf St. Pauli einen Namen. Ursprünglich sollte der Laden ganz eindeutig „Zur Spalte“ heißen, doch verzichtete man aus Respekt vor der behördlichen Schankerlaubnis darauf. „Zur Ritze“ erschien passender, nicht ganz so zweideutig und weniger vulgär. Nun denn.
Ein Mietvertrag existierte anfangs allerdings nicht. Der Handschlag mit Kiezkönig und Immobilienmogul Willi Bartels wog sowieso schwerer. Als Bartels dann 2007 starb, übernahmen Andreas und Patrick Fraatz das Erbe ihres Großvaters.
Zwar existiert inzwischen längst eine schriftliche Mietvereinbarung, doch zählen auf St. Pauli mündliche Abmachungen manchmal mehr als lebenslang. Bei wahrhaftigen Hanseaten zumindest. Daran fühlt sich auch Hanne Kleines Witwe Kirsten gebunden, die das Etablissement im Sinne und zu Ehren ihres Mannes weiterführt.
Prominente Kulisse in „Der König von St. Pauli“ und anderen TV-Serien
Für gestandene Hamburger ist es – damals wie heute – keineswegs anrüchig, ihren Reeperbahnbummel mit einem Besuch der Ritze abzurunden. Ob Udo Lindenberg, Ben Becker oder Jan Fedder, ob Franz Beckenbauer, Uwe Seeler oder Charly Dörfel, ob Ex-Michel-Hauptpastor Helge Adolphsen, Hollywood-Raufer Mickey Rourke oder Blödelbarde Otto Waalkes: Stars und Sternchen kehrten und kehren gern ein – in die Raucherkneipe oben oder in den Boxkeller unten. Feste Kost, also Speisen, gibt’s hier nicht.
Natürlich stand der Ritze in Dieter Wedels Sechsteiler „Der König von St. Pauli“ – 1998 ausgestrahlt auf Sat.1 – eine prominente Rolle zu. Bis zu zehn Millionen Zuschauer pro Folge sahen zu und freuten sich, dass auch Wirt Hanne Kleine leibhaftig vor der Kamera stand. In Peter Maffays Videoclips kam die Ritze vor, ebenfalls in einer Arztserie des ZDF mit Boxqueen Regina Halmich. Ein Teil der Kiezkomödie „Der letzte Lude“ wurde in der Kaschemme gedreht, desgleichen die Dokumentation „Der Boxprinz“ über das schräge Leben des als Prinz von Homburg bekannten Norbert Grupe.
Im Jahr 2000 fand unten im Boxkeller ein Showkampf für die ZDF-Klamotte „Olli, Tiere, Sensationen“ statt. Dabei duellierte sich Grimme-Preisträger Olli Dittrich, alias „But-sche Roni“, im „Fliegenpilzgewicht“ mit keinem anderen als Vitali Klitschko. Als Ringrichter fungierte Hanne Kleine. Im Ring unten im Keller wurde im März 2005 eine Biografie über Weltmeister Max Schmeling präsentiert.
Das Kunstwerk Ritze, denn darum handelt es sich auch ob seiner Geschichte irgendwie, entspringt einer Zeit, in der die Reeperbahn durchaus verrucht, indes noch einen Hauch romantisch war. Dass fraglos Frauen ausgebeutet, kriminelle Geschäfte getätigt und andere Sauereien veranstaltet wurden, ist ein anderes Kapitel.
Großformatig an die Eisentür gepinselt und praktisch verewigt wurden die gespreizten Schenkel Anfang/Mitte der 1970er-Jahre von Erwin Ross, der sich als „Reeperbahn-Rubens“ und „Picasso von St. Pauli“ deutschlandweit einen einschlägigen Namen gemacht hat. Als „Visitenkarte des Kiezes“, so der „Playboy“, malte der 2010 verstorbene Künstler in seiner Schaffenszeit mehr als 1000 nackte Frauenkörper – oder jedenfalls Teile davon.
Die Beine zu Hause auf Holz gemalt und dann an der Türe befestigt
„Meine Mutter Gisela stand meinem Vater für das Ritze-Motiv Modell“, weiß Ross junior. „Er malte ihre Beine zu Hause auf Holzplatten, sägte sie aus und befestigte sie an der Tür der Ritze.“ Da die Beine der 1982 verstorbenen Gisela Ross dort unter der Witterung litten, wurden sie zweimal ganz neu geschaffen.
Vorbei sind die Zeiten, als ein roter Wollvorhang eine Zweiklassengesellschaft schuf. Heute darf jeder in den früher heiligen und nur Insidern geöffneten Hinterraum. Alles ist inzwischen eins.
Geöffnet ist an 365 Tagen im Jahr, während der Woche von 14 bis 4 Uhr nachts, am Wochenende gilt open end.
Die tollen Zeiten mit knallenden Champagnerkorken, auf dem Tisch tanzenden Prinzessinnen der Nacht und den ganz schweren Jungs gehören der Vergangenheit an. Ein Sündenbabel ist die Ritze meist nur noch dann, wenn man es selbst knallen lässt. Was aber keinesfalls heißt, dass es in der Ritze ruhig ist. Hans Albers mit „La Paloma“, Freddy Quinn lang und schlapp und andere Evergreens von ganz viel Meer lassen Herzen höher schlagen, auch heute.
In den weiteren fünf Teilen dieser Serie – und natürlich weit umfangreicher im Buch – kommen Zeitzeugen zu Wort, die tatsächlich eine Menge erlebt haben hinter der berühmten Ritze-Tür. Erstklassige Beispiele sind gestandene Mannsbilder wie der „Wiener Blacky“, der „Bonner Erwin“ oder Oskar, der kernige, unverfälschte Bayer.
Im Gegensatz zu vielen Gestrauchelten oder verschollenen, leider auch ermordeten, verstorbenen oder an Alkohol, Drogen oder Armut kaputtgegangenen Wegbegleitern der Ritze haben diese Originale die Kurve gekratzt und den Einstieg in ein bürgerliches, ehrbares Dasein geschafft.
Auch dieses Trio legt Zeugnis ab von einer Ära, die einem Roman entsprungen sein könnte. Weil sie eigentlich zu wild und exzessiv ist, um echt sein zu können. Aber sie ist wahr.