Peter Ostendorf behandelt Menschen ohne Krankenkasse. „Es geht darum, Menschen in Not möglichst schnell und unbürokratisch zu helfen“, sagt der 75-Jährige. Doch das Geld reicht kaum.
Horn. Die Hand sieht gar nicht gut aus. So dick, wie sie geschwollen ist. Fast vier Monate ist das schon so. Mal mehr, mal weniger. Aber die Schmerzen sind immer da. Trotzdem ist Raamz Abdala (alle Patientennamen geändert) nicht zum Arzt gegangen. Der Ägypter hat keine Krankenversicherung. Jetzt sitzt er auf dem langen Flur in einem Seniorenheim in Horn und wartet. Auf einem Schild weist ein Pfeil auf eine unscheinbare weiße Tür, „Praxis ohne Grenzen“ steht darauf. Dann öffnet sich die Tür, und der Doktor im weißen Kittel ruft den 28-Jährigen herein. Er fragt nicht nach einer Chipkarte oder einem Überweisungsschein, er fragt, wie es dem jungen Mann geht.
Seit Anfang Mai behandelt der Hamburger Internist Peter Ostendorf mit einem Team anderer Ärzte kostenlos und anonym Menschen, die sich keine medizinische Versorgung leisten können. Jeden Mittwochnachmittag ist die Praxis geöffnet, offiziell zwischen 15 und 18 Uhr. Die ersten sind schon eine Stunde vorher da. Eine schwangere Rumänin ist darunter, ein Paar aus der Türkei, ein Mann aus Ghana. „Unser Angebot spricht sich schnell rum“, sagt Mediziner Ostendorf. Etwa 20 Patienten kommen pro Sprechstunde. Manchmal geht es nur darum, ein Grippemittel mitzugeben. Aber gleich am ersten Tag war auch ein Hamburger mit einem großen, stark entzündeten Abszess am Rücken da. Nach einer Insolvenz hatte er seine Krankenversicherung verloren, sich schon seit Jahren nicht mehr zum Doktor oder ins Krankenhaus getraut. Jetzt musste sofort etwas passieren. Ostendorf hängte sich ans Telefon und fand einen Kollegen, der den Abszess am nächsten Tag kostenlos operierte.
„Es geht darum, Menschen in Not möglichst schnell und unbürokratisch zu helfen“, sagt der 75-Jährige mit einem sanften Lächeln. Er sitzt in einem der drei Behandlungsräume. Eine kurze Atempause, bevor der nächste Patient reinkommt. Die „Praxis ohne Grenzen“ ist so etwas wie das Alterswerk des früheren Chefarztes am Marienkrankenhaus. Im vergangenen Jahr gründete er einen Trägerverein, seitdem wirbt er um Spender, hat Geräte und Medikamente organisiert. „Immer mehr Menschen in Deutschland fallen aus dem Gesundheitssystem. Das ist menschlich, gesellschaftlich und medizinisch nicht erträglich“, sagt er.
Die erste „Praxis ohne Grenzen“ hatte Uwe Denker, Kinder- und Allgemeinmediziner im Ruhestand, vor vier Jahren in Bad Segeberg eröffnet. Seitdem zieht die Idee Kreise, inzwischen behandeln nach dem Modell neun Praxen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und jetzt auch in Hamburg Flüchtlinge, Obdachlose und andere Bedürftige, ohne dass sie ihre Identität preisgeben müssen.
Ioan Domitru ist schon zum zweiten Mal da. Der Rumäne leidet unter extremen Bluthochdruck. Eine Woche lang hat er Medikamente genommen. Jetzt macht Ostendorf die erste Kontrollmessung. „Immer noch viel zu hoch“, sagt der Professor und Dolmetscherin Gabriela Nichiteanu übersetzt. Ohne ihre Hilfe würde es in der Horner Praxis nicht gehen. Etwa ein Drittel der Patienten kommt aus den neuen EU-Staaten in Südosteuropa, die meisten aus Rumänien. Als Nächstes soll der 50-jährige Zuwanderer eine 24-Stunden-Blutdruckmessung machen. Die Behandlung könnte ihm das Leben retten. In Deutschland hat der Akkordeonspieler, der sich mit seinem Bruder als Straßenmusiker durchschlägt, nur in akuten Notfällen Krankenversicherungsschutz. Bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall könnte es dann aber zu spät sein. „Ich bin sehr, sehr dankbar“, sagt Dmitru. Inzwischen sind fast alle Stühle im Wartebereich besetzt, mehrere Ärzte laufen über den Flur. Noch ist die Praxis im Aufbau. Die Möbel hat das Marienkrankenhaus bereitgestellt, sie stammen aus einer stillgelegten Intensivstation. Es gibt ein Ultraschallgerät, die Spende eines Herstellers. Auch alles andere für die gynäkologische Grundversorgung ist am Platz, ebenso die Instrumente für die hausärztlich-internistischen Untersuchungen. Einen Großteil der Medikamente spendet eine ärztegenossenschaftliche Einrichtung und ein Verein aus Aumühle. Die Kosten für die Laboruntersuchungen werden zunächst vom Marienkrankenhaus übernommen. Nachdem unter anderem das Hamburger Abendblatt über die Praxis für besondere Fälle berichtet hatte, meldeten sich zahlreiche Unterstützer, um ehrenamtlich mitzuarbeiten. Neun Internisten, fünf Gynäkologen, vier Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und sechs Krankenschwestern wechseln sich an den Praxisnachmittagen ab.
Auch Hamila Schultz will helfen. Die Kinderärztin hat schon in ihrer Praxis in Lokstedt immer mal wieder junge Patienten ohne Krankenschein versorgt. „Als Ärzte stehen wir in der Pflicht“, sagt die 65-Jährige. Ihr Engagement sieht die Deutsch-Iranerin aber auch politisch. „Wenn der Staat sich nicht kümmert, muss man privat Initiative ergreifen.“ Zwar behandeln Krankenhäuser in Notfällen auch anonym, oft wissen die Patienten das aber nicht oder sie kommen nicht, weil sie sich nicht trauen – oder sich schämen.
In den ersten Wochen waren mehrere Kinder in den Horner Praxisräumen. Bei einem Siebenjährigen diagnostizierte die Allergologin Asthma. „Die Familie hat gemerkt, dass es dem Jungen immer schlechter ging. Aber sie wussten nicht, was sie machen sollten.“ Beide Eltern waren arbeitslos geworden und deshalb aus der Krankenkasse geflogen. „Das war wirklich gut, dass sie zu uns gekommen sind“, sagt Schultz.
Hier wird jeder verarztet. Dafür, dass das klappt, sorgt Judith Tietgen. Vom ersten Tag an sitzt die 41-Jährige neben ihrem Vollzeitjob in einer Harburger Apotheke jeden Mittwochnachmittag am Empfang und sortiert, welcher der anwesenden Ärzte für die Patienten zuständig ist. „Ich wollte vor Ort was tun“, sagt Tietgen, die sich auch bei Apotheker ohne Grenzen engagiert. Lange nicht alle Hilfesuchenden sprechen Deutsch oder Englisch. Inzwischen haben sich vier Übersetzer gefunden, die wie die Rumänin Nichiteanu unentgeltlich dolmetschen.
„Es läuft gut an“, sagt Praxisgründer Ostendorf. Finanziert wird das Projekt bislang ausschließlich durch private Spender, auch eine Stiftung ist darunter. Gut 70 regelmäßige Förderer mit einem Jahresbeitrag von je 100 Euro gibt es inzwischen. „Aber wir brauchen mehr, um die laufenden Kosten zu decken.“ Auch wenn es darum geht, Patienten im Krankenhaus behandeln zu lassen. Gerade versucht er ein Netz, mit möglichst vielen Fachrichtungen aufzubauen. „Aber nicht immer wird sich jemand finden lassen, der umsonst arbeitet“, sagt der Mediziner. In solchen Fällen will er mit Krankenkassen verhandeln oder andere Einrichtungen suchen, die Kosten übernehmen können.
In Hamburg gibt es seit 2012 zudem die Clearingstelle für Flüchtlinge ohne Papiere, die über einen Behandlungsfonds verfügt. Inzwischen sind erste Verbindungen zu anderen Organisationen entstanden, die medizinische Grundversorgung für Bedürftige anbieten wie etwa die Malteser Migranten Medizin, das Diakonie-Projekt „Andocken“ oder das Zahnmobil der Caritas. Auch die Stadt Hamburg habe das Problem verstanden und unterstütze die Arbeit, sagt Ostendorf. Allerdings anders als etwa in München nicht mit direkten Zuwendungen.
Mit jeder Woche strömen mehr Menschen in die „Praxis ohne Grenzen“. Viele sehen besser aus, wenn sie die Räume am Bauerberg wieder verlassen. Auch Raamz Abdala ist einfach nur froh. Internist Ostendorf hatte eine Blutuntersuchung veranlasst, um nach einem Entzündungsherd als Ursache für die schwere Schwellung in der Hand zu forschen. Glücklicherweise ohne Befund. Mit einer Packung Schmerzmittel geht der junge Ägypter.
Der Fall des jungen Tourismusexperten beschäftigt den Doktor. Abdala ist mit einer Deutschen verheiratet, soll aber, nachdem sein Visum abgelaufen ist, zurück in seine Heimat. Er muss dort einen Deutschkurs machen, bevor er seine Aufenthaltspapiere im Rahmen der Familienzusammenführung bekommt. Erst dann könnte er arbeiten und wäre krankenversichert.