Archäologie ist ein mühsames Geschäft. Bevor Hamburgs Bodendenkmalpfleger die Hammaburg auf dem Domplatz lokalisieren konnten, mussten die Experten in jahrelanger Arbeit viele Rätsel lösen.
Was empfindet ein Archäologe, wenn er am Hamburger Domplatz gräbt? Ist es das übliche, für den Laien ohnehin schwer vorstellbare, mühsame und meistens unspektakuläre Tagesgeschäft? Oder ist es eben doch ein besonderes Vorhaben, eines, das stets mit viel größeren Hoffnungen und Erwartungen verbunden bleibt? Michael Merkel, Wissenschaftler am Archäologischen Museum Hamburg und selbst ein erfahrener Ausgräber, war schon in den 80er-Jahren bei den Domplatz-Grabungen dabei. „Die Technik ist so wie bei anderen Grabungen, aber am Domplatz geht es um Hamburgs früheste Geschichte, der schon Generationen von Wissenschaftlern vor uns auf die Spur zu kommen versucht haben“, sagt er. Und erklärt, dass die Archäologen, noch bevor sie 2004 zum ersten Mal den Spaten ansetzten, die Dokumentationen ihrer Vorgänger genauestens studierten: „Wo kann ich noch Ergebnisse herauskitzeln, die von unseren Vorgängern nicht gefunden oder nicht gesehen worden sind?“
Aber eigentlich seien er und seine Kollegen in erster Linie Bodendenkmalpfleger. Und die, könnte man zugespitzt formulieren, tun am liebsten nichts. Gegraben wird nur, wenn sich die Notwendigkeit ergibt. Das heißt, bevor ein Investor auf einer Fläche bauen darf, müssen die Archäologen in die Tiefe gehen, müssen erkunden, was der Boden an Zeugnissen der Vergangenheit bewahrt hat. Bevor etwas Neues entsteht, haben die Archäologen die Chance, der Geschichte auf die Spur zu kommen. Doch jede Grabung zerstört zugleich Zeugnisse der Geschichte, die sich oft über viele Jahrhunderte bis in unsere Tage erhalten haben. Deshalb sind Bodendenkmalpfleger trotz aller historischen Neugier so zurückhaltend.
Wer nicht gräbt, zerstört nichts. Aber wer nicht gräbt, der findet auch nichts. Sind Archäologen dann nicht eigentlich überflüssig? Merkel lacht und sagt: „Nein, auch wenn wir nur bauvorbereitend graben, haben wir alle Hände voll zu tun – und manchmal viel zu wenig Zeit, weil uns der Investor mit seinen Baggern im Rücken sitzt. Da immer gebaut wird, haben Archäologen auch immer zu graben, und das ist oft genug ungemein spannend.“ Vieles, was die Experten bei ihrer Arbeit finden, haben sie schon erwartet. Im Hamburger Innenstadtbereich ist die Siedlungsgeschichte seit dem elften Jahrhundert recht gut bekannt, gerade am Domplatz ging es aber darum, der Zeit davor auf die Spur zu kommen.
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Als Anfang des 21. Jahrhunderts der Beschluss fiel, auf dem Domplatz ein Bürgerschaftsforum zu bauen, waren Michael Merkel und seine Kollegen elektrisiert, weil sich nun tatsächlich noch einmal die Chance bot, dieses für Hamburg so wichtige Areal neu zu ergraben, und zwar mit technischen Methoden und Möglichkeiten, die den Vorgängern, die ihre Befunde noch mit Maßband, Zollstock und Buntstift dokumentiert haben, nicht zu Gebote standen. Deshalb haben die Ausgräber am Domplatz auch zunächst noch einmal die alten, schon bekannten Grabenschnitte von Reinhard Schindler aus den 50er-Jahren und Ralf Busch aus den 80er-Jahren geöffnet und die Ergebnisse mit den heutigen Hightech-Methoden abgeglichen. Von da aus haben sie dann Anschlüsse gesucht, also Bereiche ergraben, die zuvor noch nicht untersucht worden waren.
Spielt der Spaten für die Archäologen heute noch die gleiche Rolle wie für Heinrich Schliemann im 19. Jahrhundert? „Heute haben wir es oft auch mit dem Bagger zu tun, weil es aus Zeitgründen nicht anders geht. Aber der Domplatz ist ein so wertvolles und spannendes Fleckchen Erde, dass wir hier die Zeit hatten, alles so sorgfältig auszugraben, so dass uns nichts entgehen konnte. Und da spielte dann der Spaten tatsächlich noch eine große Rolle, ebenso wie die Kelle und das Bürstchen“, sagt Michael Merkel.
Am Domplatz begann es damit, dass erst einmal die neuzeitliche Oberfläche, also zum Beispiel der Belag des Parkplatzes, entfernt wurde. Dann fanden die Ausgräber die Verfärbungen auf den Schnitten der vorhergehenden Grabungen, die dokumentiert wurden. Danach begannen sie, mit dem Spaten weiter zu graben. Wo der Laie bestenfalls einen Fleck wahrnimmt, entdeckt der Archäologe zum Beispiel ein Pfostenloch. „Ein solches Loch schneiden wir in der Mitte durch, dadurch ergibt sich ein Profil, aus dem wir schließen können, was hier einst gestanden hat. Das sieht dann ungefähr so aus wie eine angeschnittene Torte: Ich sehe den Tortenboden und darauf die Schichten, die darüber liegen. Und das dokumentieren wir natürlich“, erklärt Michael Merkel.
Und das funktioniert nur deshalb, weil das Bodenniveau der Gegenwart grundsätzlich höher liegt als das der Vergangenheit. Das liegt nicht nur an den Abfällen, die sich in Jahrhunderten aufgeschichtet und Boden gebildet haben, sondern auch daran, dass der Schutt von Zerstörungen oft zum Fundament für spätere Bauten wurde. Auch das Straßenniveau stieg im Lauf der Jahrhunderte, denn wenn eine Straße saniert wurde, setzte man den neuen Belag in der Regel über den alten. Wenn man also zum Beispiel die Steinstraße aufgraben würde, fände man ganz unten noch das historische Kopfsteinpflaster aus der Frühen Neuzeit. In Hamburg ging das im Lauf der Jahrhunderte besonders schnell, weil hier immer viel gebaut, abgerissen und wieder neu gebaut wurde.
Steht ein Vor- und Frühgeschichtler vor einem solchen „Tortenschnitt“, kann er die Abfolge der Jahrhunderte genau erkennen. Vom 21. bis zum 9. Jahrhundert waren es auf dem Domplatz knapp zwei Meter, was vergleichsweise wenig ist, sich aber daraus erklärt, dass in diesem Areal relativ wenig gebaut wurde. Was man an einem solchen Schnitt konkret sieht, wirkt denkbar unspektakulär. Es sind Färbungen, Fundamentreste, Brandhorizonte, Fragmente des mittelalterlichen Doms und natürlich Scherben. Viele Dinge lassen sich dann schon mit bekannten Ereignissen synchronisieren: Eine bestimmte Brandspur kann man zum Beispiel dem Großen Brand von 1842 zuordnen. Aus der Stellung von Fundamentresten und Schutt des Doms kann man auf dessen Abriss Anfang des 19. Jahrhunderts schließen.
„Trümmer und Schutt verraten uns viel. Im Prinzip sind wir Archäologen auch Recycling-Experten“, meint Merkel. „Außerdem sind wir natürlich auch eine Art Kriminalisten. Denn der Schutt und der Müll vergangener Zeiten sind enorm aufschlussreich. Manchmal können wir auf diese Weise auch Irrtümer korrigieren oder gar historische Flunkereien entlarven“, sagt der Archäologe.
Und er erzählt die Geschichte seiner Kollegen aus Sachsen-Anhalt, die vor einigen Jahren in der Latrine von Martin Luthers Elternhaus in Mansfeld die Spuren von opulenten Speisen und luxuriösen Gegenständen entdeckten, die so gar nicht zu jener Armut passen, die der Reformator in seiner Kindheit erlebt zu haben behauptete.
Je tiefer der Spaten vordringt, desto weiter reicht auch die Zeitreise in die Geschichte zurück. Überraschungen sind dabei an der Tagesordnung. Manche Entdeckung sieht man freilich erst im Nachhinein, wenn die Befunde im Labor analysiert und Tausende von Daten ausgewertet sind. Und anderes lässt sich dort, wo es eigentlich zu sein hätte, partout nicht finden. Zum Beispiel die Ansgar-Kirche, die eben nicht an jener Stelle war, wo – wie die spätere Auswertung ergab – tatsächlich die Hammaburg aus dem neunten Jahrhundert stand.
Dann heißt es Abschied nehmen von lieb gewordenen Vorstellungen: Offenbar stand der ohnehin relativ kleine Sakralbau des berühmten Bischofs Ansgar eben nicht innerhalb der Burg, sondern davor, wahrscheinlich in Sichtweite. Da nach all den Grabungen der letzten Jahrzehnte nicht mehr viele Flächen infrage kommen, könnte sie sich auf dem Areal der Hauptkirche St. Petri befunden haben. Aber natürlich können die Hamburger Archäologen jetzt nicht einfach anrücken und den Fußboden aufreißen, sondern müssen warten, bis eines fernen Tages vielleicht einmal eine Baumaßnahme eine solche Grabung möglich und erforderlich macht.
Aber Archäologen sind geduldige Menschen. Und sie brauchen neben aller wissenschaftlichen Fachkenntnis auch viel Fantasie. Wenn Michael Merkel ein Pfostenloch entdeckt, sucht er das nächste, um möglicherweise den Grundriss eines Hauses zu lokalisieren. Und das ist dann nicht mehr abstrakt, sondern wird zum vorstellbaren Zeugnis einer Geschichte von Menschen, die hier gelebt und dieses Haus bewohnt haben. War das ein großes Haus oder ein kleines? Wohnten hier arme oder reiche Leute? Oder war es vielleicht gar nicht Teil eines Hauses, sondern nur ein Pfosten, an dem ein Hirte sein Ziege festgebunden hat? Ist die Keramikscherbe Teil eines schön gestalteten Gefäßes gewesen? Hätte man das in diesem Stil selbst hingekriegt? Haben die Menschen, die das vor mehr als 1000 Jahren schufen, selbst Spaß an Ästhetik gehabt? Dann beginnt das Kino im Kopf, werden aus Bodenverfärbungen Bilder, die auch eine ferne Zeit auf einmal nah erscheinen lassen. „Storytelling“, die Dinge zum Sprechen zu bringen, ist ein Thema, dem sich Archäologen heute viel stärker widmen als in früheren Zeiten.
Aber die Arbeit vor Ort ist erst einmal ein mühsames Geschäft. Da wird bei Wind und Wetter behutsam ausgegraben, werden Daten erfasst und in den Computer eingegeben, werden Fotos gemacht, Messungen vorgenommen und zahllose Scherben und organische Proben in Zellophanbeutelchen verpackt, beschriftet, in Excel-Listen eingetragen und ins Depot geschafft. Als die Mitarbeiter des Archäologischen Museums schließlich ihre Arbeitsgeräte am Domplatz wieder einpackten, waren sie etwas ernüchtert. Die Funde waren nicht berauschend, und was die Befunde am Ende aussagen würden, blieb noch völlig unklar. Am Leibniz-Labor für Altersbestimmung der Kieler Christian-Albrecht Universität untersuchten die Wissenschaftler die Proben mit der sogenannten C14-Methode. Bei der Radiokarbonmethode macht man sich zunutze, dass jedes organische Leben das Isotop C14 in sich trägt. Im Moment des Todes setzt der Verfall dieses Isotops ein und anhand der Zerfallsrate lassen sich genaue Datierungen vornehmen.
In Kombination mit der so genannten Dendrochronologie, bei der man die Jahresringe der Bäume zugrunde legt, kann man zu erstaunlich genauen Datierungen kommen. Die jahrelange Auswertung ergab zahllose Puzzleteile, die für sich genommen nur geringe Aussagekraft besaßen. Erst als der Grabungsleiter Karsten Kablitz die Daten in seinem Bericht zusammenfasste und seine Befunde zeichnerisch umsetzte, ergab sich ein Bild. Und als schließlich der renommierte Keramikexperte Torsten Kempe einen Teil der Scherben sicher auf das neunte Jahrhundert datieren konnte, war die Sensation schließlich perfekt. „Erst jetzt konnten wir wirklich eine kontinuierliche Besiedlung vom sechsten bis zum elften Jahrhundert nachweisen. Für uns war damit auch klar, dass wir der Hammaburg tatsächlich auf die Spur gekommen waren“, sagt Michael Merkel.
Was fühlen Archäologen in einem solchen Moment? „Wir waren schon alle etwas euphorisiert, wobei das schon ein wissenschaftliches Glücksgefühl ist“, erinnert sich der Ausgräber, und fügt hinzu: „Für die meisten Hamburger war ja schon immer klar, dass es die Hammaburg auf dem Domplatz gegeben hat. Für uns Wissenschaftler ist das Tolle an der Sache, dass wir das jetzt auch wirklich belegen können – jedenfalls mit einer ungefähr 98,5-prozentigern Wahrscheinlichkeit.“ So haben sich die Hoffnungen und Erwartungen, die die Ausgräber bei ihrer mühsamen Arbeit motivierte, doch noch erfüllt.