Heute beginnt das Winternotprogramm mit 700 Schlafplätzen in Hamburg. An der Kennedybrücke leben deutsche und ausländische Obdachlose nebeneinander. Nur wenige wollen in die Obhut der Stadt.

Hamburg. Thorsten hat es sich an der Betonschräge so gemütlich gemacht, wie es eben geht. „Ich habe vier Iso-Decken, einen Heizstrahler, ein Radio“, sagt der Schwabe. Sein hüfthohes Zelt unter der Kennedybrücke zittert leicht im Zugwind, der 55-Jährige nestelt einen Klumpen Tabak aus seiner Packung. „Aber ich muss weg, auch wenn die anderen bleiben. Hier erfrierst du. Oder verbrennst. Eines von beiden sicher, ne?“

Thorsten zieht um, von der „Platte“ zwischen Binnen- und Außenalster in die Obhut der Stadt. Am heutigen Freitag läuft das sogenannte Winternotprogramm für Obdachlose und Bedürftige an. Der 55-Jährige, der seinen echten Namen nicht veröffentlicht lesen will, hat sich frühzeitig um einen der 700 Plätze bemüht. 1,2 Millionen Euro investiert die Stadt, damit in diesem Winter niemand im öffentlichen Raum erfrieren muss.

Für Thorsten ist es eine Gelegenheit „durchzustarten“. Der gelernte Lastwagenfahrer aus Baden-Württemberg hat nach seiner Scheidung „alles daneben gehauen“, sagt er. Vor Familie und Schulden flüchtete er im Frühjahr nach Hamburg, aus ein paar Tagen ohne feste Bleibe wurden fünf Monate. Nun soll sich der Teufelskreis umkehren. Erst wieder ein Dach über dem Kopf, wenn auch im Container. Dann eine Wohnung. Ein Job. Ein richtiges Leben.

„Ich versuche, die Kollegen zu überreden mitzugehen - aber da könnte auch der Papst kommen“, sagt Thorsten und bläst dichten Rauch aus dem Zelteingang. Elf Zelte stehen dicht gereiht unter der Brücke. „Alles Deutsche da drinnen“, sagt Thorsten, die meisten jung, keine 30 Jahre alt. Jede Stunde passiert eine Barkasse die Kennedybrücke, die Touristen winken gern. Zur Antwort ziehen die Plattenbewohner meist wortlos die Zeltfront hinunter.

„Die Leute bleiben unter sich, ne?“, sagt Thorsten. „Ein Idyll war es hier noch nie. Aber es ist schlimmer geworden. Rau, auch untereinander, ne?“ Seit Jahren streiten sich die Obdachlosen mit Jugendlichem aus dem Punk-Milieu um den halbwegs geschützten Platz im Herzen Hamburgs.

Im Mai brannte ein 17-jähriger Ausreißer mit einem Feuerzeug die gesamte Zeltkolonie nieder. Dass niemand verletzt wurde, ist laut Polizei nur darauf zurückzuführen, dass die Bewohner ihre „Platte“ verlassen hatten – aus Angst.

Neue Bewohner kamen, so wie Thorsten. Sie wuschen die Rußflecken eigenhändig von der Betonwand, in hellgrauen Flecken sind die Spuren des Feuers noch immer zu sehen. In eine Notunterkunft zu gehen kommt für die meisten Bewohner trotzdem nicht in Frage, sagt Thorsten. „Entweder sie haben einen Hund, den sie in eine Unterkunft nicht mitnehmen dürfen. Oder sie glauben, in der Notunterkunft geht es noch unfreundlicher zu, als hier“, sagt Thorsten. Einige hätten auch schlicht ein Problem mit staatlichen Regeln. „Hoffentlich bringt sie der Winter zur Einsicht, bevor alle Plätze weg sind“.

Bulgaren mit Kindern als Bedürftige zweiter Klasse?

Ob die 20 Notunterkünfte für alle Bedürftigen ausreichen werden, ist unklar. Im strengen Winter zu Beginn des Jahres mussten 650 Schlafplätze kurzfristig zusätzlich geschaffen werden. Durch die neu geschaffene berufliche Freizügigkeit innerhalb der EU hat sich die insbesondere die Zahl der osteuropäischen Menschen in Hamburg ohne feste Bleibe deutlich erhöht. Die aktuellsten städtischen Zahlen weisen für das Jahr 2009 rund 4000 Menschen in Notunterkünften und 1000 weitere auf der Straße aus, das Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“ schätzt ihre Zahl deutlich höher.

Nahe der Kennedybrücke hat sich eine kleine Kolonie von bulgarischen Zeltbewohnern gebildet. „Wir leben nebeneinander her, kommen uns aber nicht in die Quere“, sagt Thorsten. Die Zelte der Migranten sind nicht mehr als notdürftig gespannte Planen am Alsterufer, jeder Windstoß eine kleine Naturkatastrophe. Der Tagesrhythmus gleicht dem ihrer deutschen Leidensgenossen. „Schlafen, schlafen, betteln, essen, schlafen“, sagt Thorsten.

Passanten berichteten wiederholt von Kindern, die in diesen Zelten leben sollen. In der Antwort auf eine Schriftliche Kleine Anfrage der Bürgerschaftsabgeordneten Martina Kaesbach (FDP) verneint der Senat jedoch, dass auch Minderjährige an der Kennedybrücke hausen. Der Obdachlose Thorsten sagt, „das ist vorgekommen, dass da auch kleine Mädels mit rumliefen“. Die seien aber nur ein paar Tage vor Ort, dann schreite das Jugendamt ein. „Im Moment leben da nur Erwachsene“, so Thorsten.

Der Bezirk Mitte will allen Obdachlosen an der Kennedybrücke in den kommenden Wochen anbieten, in eine Notunterkunft umzuziehen. Da sie keinen Rechtsanspruch auf eine Unterbringung besitzen, sollen ihre Personalien erfasst und sie in verschiedenen Schulhallen einquartiert werden. Die Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke spricht von einem „hochproblematischen“ Vorgang. „Feststellungen von Personalien waren bisher kein Thema im Winternotprogramm und sollten es auch in diesem Winter nicht sein“, sagte die sozialpolitische Sprecherin Cansu Özdemir.