Hamburg. Die neunjährige Lea ist schwer krank. Warum ein Kinder-Hospiz für sie zur Wohlfühloase wurde und was der Familie Mut macht.
Lachend flitzt Lea mit ihren Brüdern Jannik (11) und Noah (7) durch die Gänge der Sternenbrücke in Rissen. Die gelben Wände fliegen an ihnen vorbei. Neugierig erkunden sie, was sich seit ihrem letzten Besuch verändert hat. Dass Lea im Rollstuhl sitzt, stört sie dabei nicht. Mit ihrem elektrischen „Rolli“ ist sie flott unterwegs, kann selbstständig entscheiden, wie schnell sie wohin fährt. Und eine Sache findet sie besonders cool: „Ich kann damit die Höhe verstellen – dann bin ich sogar größer als Noah!“
Auch zu Hause spielen die drei oft zusammen. „Manchmal habe ich darauf aber keine Lust“, stellt Lea klar. „Und dann streiten wir uns – wie ganz normale Geschwister eben“, sagt Noah. Dass ihre Schwester schwer krank ist, wissen Jannik und Noah.
Lea hat eine spinale Muskelatrophie (SMA). „Das ist ein Gendefekt, der bewirkt, dass die Muskeln nicht richtig angesprochen werden und dadurch verkümmern. Lea hat grundsätzlich einen reduzierten Muskeltonus, der verhindert, dass sie laufen kann“, erklärt ihre Mutter Sabrina Westermann. Jannik und Noah sind nicht erkrankt. „Die beiden sind sehr süß zu ihr. Noah konnte als Baby selbst noch gar nicht laufen, da hat er Lea schon versucht zu helfen.“
Ins Kinder-Hospiz Sternenbrücke? Anfangs waren die Eltern skeptisch
Dass ihre Tochter sich nicht normal entwickelt, merkt die junge Mutter früh. „Sie fing nicht an, sich zu drehen oder zu krabbeln. Das war bei Jannik anders“, erzählt Sabrina Westermann. 2014, etwa ein Jahr nach ihrer Geburt, wird bei Lea schließlich SMA Typ 1 nachgewiesen – die schwerste Form. Das Leben der Familie wird von einem Tag auf den anderen komplett auf den Kopf gestellt. Aufgeben ist allerdings nie eine Option. Viel Unterstützung bekommen sie von Leas Kinderarzt. „Er hat uns 2014 auch auf die Sternenbrücke gebracht“, sagt Markus Westermann.
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„Am Anfang waren wir sehr skeptisch“, erinnert sich der Familienvater. „Wir haben Hospiz mit dem Lebensende verbunden.“ Doch die Familie lernt schnell, dass es hier um viel mehr geht – nämlich vor allem um Entlastung im Alltag. „Markus und ich mussten erst mal lernen, Hilfe anzunehmen“, sagt Sabrina Westermann. Heute ist die Familie aus Bispingen dankbar, dass sie den Schritt gewagt hat. „Die Atmosphäre ist so familiär. Wir fühlen uns sehr gut aufgehoben“, sagt Markus Westermann. Hier finden alle auch Halt, als es Lea sehr schlecht geht und sie künstlich beatmet und ernährt werden muss. „Sie konnte den Kopf gar nicht allein halten und brauchte eine Stütze am Rolli“, erinnert sich die Mutter.
Trauerbegleiter bereiten die Familie auf einen Abschied vor
Gespräche mit Trauerbegleitern bereiten die Familie auf einen Abschied vor. „Wir haben uns das erste Mal damit beschäftigt, wie eine Beerdigung für Lea aussehen könnte – etwa Luftballons steigen zu lassen mit Wünschen.“ Auch die Gemeinschaft vor Ort und der Austausch mit anderen Betroffenen hilft Markus und Sabrina Westermann, die Situation zu akzeptieren. Ihr ewiger Begleiter: die Ungewissheit. Obwohl Lea an der schwersten Form von SMA leidet, hat sie keinen typischen Krankheitsverlauf. „Jeder Mensch hat Ersatzgene, sogenannte Genkopien“, erklärt Sabrina Westermann. „Normalerweise haben Menschen ein bis zwei – Lea hat aber drei. Dadurch ist der Krankheitsverlauf bei ihr langsamer.“ Der Arzt gab Lea höchstens fünf Jahre. „Ich bin so froh, dass ich älter geworden bin“, sagt die Neunjährige. „Und ich will auch noch älter werden.“ Ihre Chancen dafür stehen gut.
Ein neues Medikament macht der Familie plötzlich Hoffnung
2016, da ist Lea drei Jahre alt, bekommt die Familie einen Anruf, der ihnen Hoffnung macht. Es gibt ein neues Medikament, das im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in einer Studie getestet wird. Per Lumbalpunktion wird Lea das in den USA bereits zugelassene Mittel gespritzt. Sie spricht gut darauf an und bekommt alle drei Monate eine Spritze. Inzwischen lässt sich die Arznei oral verabreichen. Die Forschung ist mittlerweile so weit, dass die Krankheit im Neugeborenen-Screening enthalten ist. „Lea wird eine der letzten Generationen in der Sternenbrücke mit SMA sein“, sagt Sabrina Westermann. Für Lea bedeutet das Medikament zwar keine Heilung, aber zumindest eine deutlich verlängerte Lebenszeit: „Der Arzt hat uns ermuntert, für den Führerschein zu sparen.“
Damit hat sich das Leben der Westermanns erneut extrem verändert. „Nach der ersten Prognose haben wir von Tag zu Tag gelebt. Nun planen wir viel langfristiger“, sagt die Mutter. Sie haben zu Hause einen Fahrstuhl einbauen lassen, um Lea möglichst viel Freiraum zu bieten. „Sie ist sehr selbstständig geworden.“ In ihrer Grundschule wird sie voll akzeptiert. „Selbst der Klassenrabauke, der allen anderen gegenüber jähzornig ist, schaltet bei ihr auf lieb. Die streiten sich eher darum, wer sie schieben darf.“ Menschen, die sie bemitleiden, mag Lea gar nicht: „Ich bin normal – außer, dass ich nicht laufen kann“, sagt sie. Vorurteilen trotzt sie mit ihrer positiven Ausstrahlung. Nächstes Jahr kommt Lea dann aufs Gymnasium. Gerade für ihre Mutter wachsen damit die Aufgaben im Alltag. Was die Inklusion an Schulen betrifft, muss sie oft Pionierarbeit leisten.
Kinder-Hospiz Sternenbrücke ist für die Familie eine Wohlfühloase
Um dem stressigen Alltag zu entkommen, ist die Sternenbrücke für Sabrina, Markus, Jannik, Lea und Noah sehr wichtig. Etwa dreimal im Jahr kommen sie hier hin. „Für mich ist es wie ein zweites Zuhause. Hier kann ich sogar schwimmen oder reiten“, sagt Lea. Für Jannik und Noah ist es ein Spieleparadies. Und für Markus und Sabrina eine Wohlfühloase: „Die Sternenbrücke hilft uns extrem, weil wir so von der Pflege entlastet sind und Gedankenschwerpunkte woanders legen können“, sagt der Vater. Darüber hinaus schaffen die Aufenthalte Raum, die verbleibende gemeinsame Zeit mit ihrer Tochter zu genießen. „Der Gedanke, dass wir Lea nicht so lange bei uns haben werden, ist nicht weg, vielleicht erst mal zur Seite geschoben.“
Wie alt Lea werden wird, kann niemand so genau sagen. Die Westermanns wissen nur eins: Wenn es so weit ist, sind sie bei der Sternenbrücke gut aufgehoben.
Kinder-Hospiz Sternenbrücke:
- Das Hamburger Kinder-Hospiz Sternenbrücke feiert an diesem Montag (1. Mai) sein 20-jähriges Bestehen mit einem Tag der offenen Tür.
- Beim Start vor 20 Jahren sei das Kinder-Hospiz erst die zweite Einrichtung dieser Art bundesweit gewesen, sagte Mitbegründer Peer Gent, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Kinder-Hospiz Sternenbrücke. Das Haus sei damals Pilotprojekt für Norddeutschland gewesen.
- Das Kinder-Hospiz Sternenbrücke betreut derzeit rund 700 Familien, das idyllisch gelegene Haus im Stadtteil Rissen bietet Platz für einen Aufenthalt von zwölf Familien. Aufgenommen werden können unheilbar Erkrankte bis 27 Jahre.
- Mehr als 200 Jungen und Mädchen starben bislang in dem Hospiz. Besondere Orte wie der Abschiedsraum oder der „Garten der Erinnerung“ geben den Familien Raum und Zeit für ihre Trauer.
- Zwei Millionen Euro Spenden pro Jahr braucht die Einrichtung nach Angaben von Gent, um die Arbeit zu finanzieren.
- Das Kinder-Hospiz Sternenbrücke lädt zum Tag der offenen Tür, Infos dazu unter sternenbruecke.de