Hamburg. Wegen des straffen Probenplans muss der Organist nachts das Königsinstrument des Konzerthauses stimmen.

Mitternacht. Die Hamburger Elbphilharmonie schläft im Mondlicht. Bis Schritte durch ihren Großen Saal mit seinen weinbergartigen Zuschauerrängen hallen: Thomas Cornelius betritt seinen Lieblingsplatz. Öffnet eine zwischen den Prospektpfeifen verborgene Tür, nimmt die enge Wendeltreppe dahinter. Gleitet von einer Welt in die andere – geradewegs in den Bauch des berühmten Konzerthauses, in die Orgel.

Mit ihren Windkanälen, Pfeifenheeren und der ganzen hölzernen Mechanik erinnert sie an eine Mischung aus Brauerei, Tropfsteinhöhle und Webstuhl. 4765 Pfeifen hat das Wunderwerk, rund 1000 davon, die mit den sensiblen Metallzungen, muss Cornelius jetzt stimmen. Fünf Stunden wird ihn das kosten. Aber die Nacht ist ja noch jung. Cornelius streift grüne Gummihandschuhe über und macht sich an die Arbeit. Ein bisschen Chirurg, ein bisschen Michael Schumacher.

Der, hieß es, hörte seinem Rennauto nach wenigen Metern an, wo ein Tropfen Öl fehlte, eine Schraube nachzuziehen war. Cornelius geht es mit der Orgel genauso. Er horcht jedem ihrer Töne nach, erahnt jedes Zittern, scheint Temperaturveränderungen ihrer Zungen zu erspüren, hört, ob sie einen schlechten Tag hat – und greift auch selbst mal in die Kiste mit Holz, Werkzeugen, Lederresten, um kleine Malaisen an seinem Schützling zu beheben.

Vielleicht kennt – abgesehen von Titularorganistin Iveta Apkalna – keiner das Königsinstrument der Elbphilharmonie besser als er. Und natürlich den straffen Terminplan des Konzerthauses. Proben, Besichtigungen, Inspektionen. Irgendwas ist immer. Deshalb bleiben Cornelius zum Stimmen nur Unzeiten.

100 Dezibel, da ist ein Kopfhörer natürlich Pflicht

Ein Ton. Und noch einer. Mit viel Wumms. „Die Orgel müsste waffenscheinpflichtig sein“, sagt der 33-Jährige. „Die zerschießt einem das Trommelfell.“ 100 Dezibel direkt an der Pfeife, das geht nur mit Ohropax und zusätzlichen Kopfhörern. Weil nach hinten hin kein Platz war, breitet sich die Orgel nach oben und unten aus, über 15 Meter alleine in der Höhe. 180 Kubikmeter Luft werden durch ihre Kanäle geblasen.

Aber bitte: Man wollte ein Instrument, das mit einem Sinfonieorchester mithalten kann. Das hat man jetzt. Dazu einen Saal, der gnadenlos ist. Seine Akustik schleudert jedes Husten, jedes Räuspern von den Rängen auf die Bühne. Macht aus jeder Mücke sozusagen einen Elefanten. Piccoloflöten müssen leise spielen, eine Tuba ist oft zu laut. Einige Musiker haben Angst vor der Elbphilharmonie.

Die Wucht einer Orgel zog Cornelius schon als kleinen Jungen in den Bann. „Sonntags in der Kirche dachte ich: Damit kann man auch als kleiner Mensch eine laute Stimme haben.“ Statt Flugzeuge oder Burgen baute er in seinem Zimmer mit seinen Duplosteinen Pfeifeninstrumente nach. Dass er sich neben der Geige auch am Klavier schon bald als Überflieger entpuppte, überzeugte den Schleswiger Domorganisten, ihm Unterricht zu geben. „Damit begann für mich ein neues Leben“, erinnert sich Cornelius. Statt zur Schule zu gehen, bog er oft lieber zum Üben zur Kirche ab.

Praktika beim Orgelbauer

Es folgten Orgellehrer in Lübeck und Hamburg, nach dem Abi ein Musikstudium, Praktika beim Orgelbauer. Und irgendwann die Engagements als Organist des NDR Elbphilharmonie Orchesters. „2016 lief ich mit den Orgelbauern der Bonner Werkstatt Johannes Klais und dem Akustiker Yasuhisa Toyota das erste Mal durch die Orgel, da standen gerade mal ein paar Pfeifen“, erzählt Cornelius. „Es wurde noch gehämmert, die Kreissägen kreischten, alles war voller Baustaub.“

Die Orgel wurde pünktlich fertig, das Haus selbst war noch weit von der Konzertreife entfernt, „da lag nicht mal der Boden“, erinnert sich Cornelius. Das Instrument erschien ihm wie ein neues Universum, ihre Tücken und Besonderheiten wie liebenswerte Charakterstärken. Eine der Pfeifen etwa klingt wie ein Schiffshorn. „Ein bisschen Hokuspokus verstecken Orgelbauer ja immer“, erzählt Cornelius. Manchmal ist es der Klang von Glasscherben hinter einer Pfeife. Oder der Gesang einer Nachtigall.

Mit dem Einsatz an der Orgel wechselt Cornelius sich mit Iveta Apkalna ab. Aber ein bisschen fühlt sich der Hamburger wie der Vater dieser Orgel. Dass er gerade an ihr übte, als der Anruf kam, dass seine Frau in den Wehen liege – für ihn ein Schicksalsmoment, einer von vielen. Er spielte sein Stück seelenruhig zu Ende, fuhr dann ins Krankenhaus. Wurde Vater. „Dieser Tag wird immer mit der Orgel verknüpft sein.“ Zu Hause übt Cornelius an einem selbst gebauten Instru­ment.

Reine Kopfsache

Bei nur 120 Pfeifen und wenigen Pedalen ist das oft reine Kopfsache: „Wenn ich eine Pedale treten muss, die meine Orgel nicht hat, trete ich halt ins Leere.“ Für seine große Liebe hat er längst eigene Stücke geschrieben. „Metamorphosen“. Und „Die Vier Elemente“. Feuer, Wind, Wasser auf dieser Orgel? Echte Naturgewalten halt. Anlässlich des Hamburger Orgeljahres 2019 entwarf Cornelius sogar die Orgel-App „Play-Arp“, mit der man virtuell ein paar Töne auf einer Orgel des vor 300 Jahren verstorbenen Meisterbauers Arp Schnitger ausprobieren kann.

Die Nacht ist fast zu Ende, die letzte Pfeife ist gestimmt. Einmal, erzählt Cornelius, habe er seinen neugeborenen Sohn beim nächtlichen Üben mit dabeigehabt. „Ich saß am fahrbaren Spieltisch unten auf der Bühne und habe natürlich so leise wie möglich gespielt“, sagt er. „Aber erst als ich lauter spielte, ist er eingeschlafen.“ Das müssen die Gene sein.