Hamburg. Sie könnte spielend alle Register ziehen. Sie tut es aber bewusst nicht. Bald erscheint ihre erste Elbphilharmonie-CD.

Im Eingang des Cafés bleibt die zierliche Frau stehen und zieht die Luft durch die Nase. „Dieser Duft! Sie backen noch selbst hier. Das erinnert mich an meine Kindheit. Mein Großvater war Direktor einer Brotfa­brik.“ Sie erzählt das mit einem verschmitzten Stolz und einer Lebendigkeit, die ihre mondäne Erscheinung – perfekte Frisur, Etuikleid, Designerhandtasche – charmant konterkarieren.

Auf dem kurzen Weg ins Innere des Cafés ist Iveta Apkalna schon mitten in ihrer Familiengeschichte angekommen, vom Pianistenberuf der Mutter bis zum heimlichen Schuleschwänzen, weil es sie im Winter unwiderstehlich zum Schlittschuhlaufen auf die nahe gelegenen Seen zog. Apkalna stammt aus dem lettischen Provinzstädtchen Rezekne. Aus jedem ihrer Sätze leuchtet die Liebe zu ihrem Land. Vielleicht braucht man diese Art Erdung, um eine so einzigartige Karriere zu machen.

Geradlinige Eleganz

Apkalna ist vermutlich die berühmteste Organistin der Welt, und das nicht erst, seit die Elbphilharmonie sie zur ­Titularorganistin ernannte. Schon ­immer hat sie im Dienste ihres Instruments Türen aufgestoßen: 2005 bekam sie als erste Organistin einen ECHO Klassik als „Instrumentalistin des Jahres“, sogar die Modezeitschrift „Vogue“ hat schon über sie geschrieben, natürlich mit rasantem Foto.

Die Puristen unter den Orgelanhängern – und von denen gibt es unter den eher älteren, eher stramm protestantischen Mitgliedern der Community jede Menge – müssen sich ob solcher Äußerlichkeiten mit Grausen abgewandt haben. Auch wenn das Spiel mit der Mädchenhaftigkeit mittlerweile einer geradlinigeren Eleganz Platz gemacht hat: ­Apkalna entspricht so gar nicht dem Klischee. In ihren Konzerten zeigt sie gern Haut, wie viele andere Solistinnen auch.

Revolutionäre Veränderung

Vor allem aber überträgt sich ihr Musizieren unmittelbar aufs Publikum. „Ich spiele mit dem ganzen Körper.“ Es ist, als existierten die Barrieren nicht, die dem Kontakt mit den Hörern eines Orgelkonzerts so oft im Wege stehen. Zwischen Tastatur und Pfeifen können Dutzende Meter liegen, sodass der Hörer Instrument und Spieler nicht ohne Weiteres intuitiv als Einheit erlebt.

Die grazile Frau mit der pompösen Amtsbezeichnung würde dem Instrument im Jahre 2018 ohnehin kein Imageproblem mehr attestieren. „Die Orgel erlebt eine revolutionäre Veränderung. Früher sagten die großen Festivals regelmäßig, Orgelkonzerte sind nicht rentabel. Inzwischen nehmen sie sie ins Programm.“ Der Stolz darauf, ­dazu beigetragen zu haben, ist nicht zu überhören: „Ich habe immer für einen bestimmten Stil gekämpft. Meine Programme wurden oft zensiert. Aber ich habe keine Zugeständnisse gemacht. Nur wenn ich mir treu bleibe, kann ich auch das Publikum erreichen.“

Anspruchsvolles Repertoire

Blondes Haar hin, Flirts mit den Medien her – treu bleibt sich Apkalna mit einem kompromisslos anspruchsvollen Repertoire. Zu ihren Hausheiligen zählen Poulenc und Saint-Saëns, aber auch Mozart, den man nicht primär mit der Orgel in Verbindung brächte.

Eigenwilliger ist ihre Vorliebe für ihre Landsleute Aivars Kalejs und Lucija ­Garuta; zudem legt sie besonderes ­Gewicht auf zeitgenössische Musik. Auf das Programm ihres ersten Soloabends in der Elbphilharmonie setzte Apkalna Werke des Franzosen Thierry Escaich, des amerikanischen Minimal-Music-Stars Philip Glass – und „Hell und Dunkel“ von Sofia Gubaidulina, einer Eminenz unter den heutigen Tonsetzern. Ins Englische übertragen, dient der Werktitel des Gubaidulina-Stücks nun als Überschrift für die Debüt-CD der Klais-Orgel: Im September erscheint „Light and Dark“. Schwarze und weiße Tasten, die blonde Interpretin in konzertschwarze Seide gehüllt, der schwarze Spieltisch auf dem hellen Bühnenboden des Großen Saals – alles dankbare Kontraste.

Sie fordert ihre Hörer

Der Bogen reicht von der Passaca­glia aus Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ bis zu Ligetis „Couleé“, von den klingenden Gewissensbissen einer Mörderin mit Dissonanzen und beklemmenden, tiefen Tönen bis zum minutenlangen Klangfluss, auf dem das Sonnenlicht in unzähligen Brechungen zu tanzen scheint.

Apkalna, die für die Aufnahmen vier ganze Nächte in der Elbphilharmonie verbracht hat, scheut sich nicht, ihre Hörer zu fordern. Und führt sie durch die unerschöpflichen Möglichkeiten des Instruments. Die lotet sie souverän aus, doch die Kunst liegt in der Beschränkung. „Diese Orgel kann einfach alles“, sagt sie. „Man fühlt sich wie ein Kind im Bonbonladen! Manche Organisten versuchen, den ganzen Reichtum in einer halben Stunde zu zeigen. Da wird dem Publikum irgendwann schlecht. Alle ­Register ziehen? Das tue ich nie.“

Intuitiver Zugang

So durchdacht Apkalna musiziert, ihr Zugang zur Orgel ist zunächst einmal intuitiv. Wenn sie erzählt, was sie geprägt hat, geht es im Kern um den emotionalen Gehalt der Musik. Sie schwärmt von der Subtilität des Pianisten Wladimir Horowitz und von ihrem Auftritt mit den Berliner Philharmonikern bei den Waldbühnen-Konzerten mit dem Dirigenten Claudio Abbado: „Seine Mimik ersetzte fünf Jahre Hochschulstudium. Es war fast schade, dass ich gleichzeitig spielen musste!“

Eine Organistin als Ausdrucksjunkie, das ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich stehen bei ihrem Instrument viele technische Schritte zwischen der musikalischen Vorstellung und deren Verwirklichung. So kann die Klangfarbe, ein sehr persönliches Gestaltungselement, nicht aus dem Moment heraus eingesetzt werden. „Ich kann aber variieren“, erklärt sie, „vor allem dadurch, wie ich die Tasten loslasse. Das hat viel mit Singen zu tun. Ich spüre die Akkorde in meinem Rücken. Die Musik geht durch mich in die Tasten.“

Apkalna fasziniert vor allem die Körperlichkeit

Diese Körperlichkeit ist es, die Apkalna an der Orgel fasziniert: „Sie hat mir beim Klavier gefehlt.“ Schon mit acht Jahren wusste Apkalna, dass sie Musikerin werden wollte. Die Orgel kam in ihrem Universum damals allerdings nicht vor. Apkalna ist 1976 geboren, und zu Sowjetzeiten war in Lettland alles, was mit Kirche zu tun hatte, per se suspekt, Denunziationen an der Tagesordnung. Aber als nach der Wende die ­Musikschule von Rezekne als erstes In­stitut Lettlands Orgel als Unterrichtsfach anbot, wurde Apkalna die erste Studentin. Als Papst Johannes Paul II. Lettland besuchte, durfte sie mit gerade 16 Jahren den Gottesdienst spielen.

Seit 2006 lebt sie in Deutschland. Mit ihrem deutschen Mann, er hat das Album als Tonmeister mitproduziert, und den beiden Kindern wohnt sie in Berlin, aber sie fahren so oft es geht nach Riga. Und als sie an diesem sonnigen Vormittag vom Allgemeinen Lettischen Gesangs- und Tanzfest erzählt, dem weltberühmten Musikfestival, bei dem das ganze kleine Land auf den Beinen ist, da strahlt die größte Freude auf ihrem Gesicht: „Ich darf das Abschlusskonzert auf der Orgel begleiten. Es ist das erste Mal, dass Orgel dabei ist!“ Die Premieren gehen nicht aus im Leben der Iveta Apkalna.

Das Album „Light & Dark“ (Berlin Classics) erscheint am 7. September