Alle wollen rein, alle können mitreden, niemand kann und will mehr auf dieses Konzerthaus verzichten. Hier neue Podcast-Folge hören.

Es gab tolle Konzerte, bewegende, überraschende, mittelprächtige, prächtig versemmelte. Programme, die als Tourware abgespult wurden, aber auch spezielle Abende. Konzerte für Anfänger, Routiniers, Profis. Konzerte mit sehr alter und sehr neuer Musik. Gänsehaut bei den ersten öffentlichen Konzerten mit Publikum. Unwiederbringbare, historische Premieren-Momente; so viel Pathos darf schon mal sein.

Tränen der Rührung, als ein syrischer Sänger, allen Tagesnachrichten zum Trotz, mit Lebensfreude um sich warf. Tobenden Applaus für Avantgarde-Klassiker und zeitgenössische Streichquartette, als hätte sich Helene Fischer auf offener Bühne ausgezogen. Die begeistert staunenden Blicke weit gereister Virtuosen, als sie die Arena in der gläsernen Welle zum ersten Mal betraten. Konzerte, die unter anderen Vorzeichen Kassengift mit Insidern in kleinen Clubs gewesen wären, nun knapp 2100 Plätze ausverkauft bekamen, ratzfatz, wie alles und jeder im Spielplan. Diese Nischenkünstler kriegten sich beim Anblick der Menschenmassen kaum ein vor Glück.

Herzen schlagen höher

Das Wichtigste aber: Es gab diese vielen so unterschiedlichen Konzerte, die seit dem 11. Januar unwahrscheinlich viele Menschen in der Elbphilharmonie hören und erleben wollten. Augen glänzen. Herzen schlagen jetzt höher, wenn und weil jemand Klassik hört.

Es gibt mittlerweile Süchtige, die vor wenigen Wochen noch keinerlei Verlangen nach klassischer Musik verspürten und sich damit eigentlich auch ganz wohlfühlten. Jetzt fehlt ihnen etwas: große, wichtige, einfache, schwierige, herausfordernde Musik. Kultur. Das andere, das besondere Etwas. Abende ohne sind Abende mit Phantomschmerz. Die Droge wirkt, obwohl manche erst ahnen, warum das so ist. Macht nichts. Entspannt euch, lehnt euch zurück, ihr seid in der Elbphilharmonie. Der Masterplan Musikmetropole, von dem jahrelang vollmundig orakelt wurde, ist aktiviert. Die Kulturstadt Hamburg – zuvor im Mittelfeld und eifriger im großflächigen Eigenlob – hat sich grundlegend verändert, in gerade mal gut drei Monaten mit eröffneter Elbphilharmonie.

Elbphilharmonie-Podcast Elphidelity:

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Nach den ersten 100 Tagen Spielbetrieb in Hamburgs neuem Konzerthaus, einem weltweit bestaunten Wahrzeichen, kann der größte Teil der ersten Zwischenbilanz nur positiv ausfallen. Und damit sind nicht nur die blanken Zahlen gemeint: mehr als 1,6 Millionen Plaza-Besucher seit deren Freigabe Anfang November, dazu etwa 250.000 Konzertgäste. Und wer weiß, ob die bereits verkürzte Sommerpause in der Bespielung noch zu halten sein wird, weil die internationale Neugierde so riesig ist und jeder Sommerabend ohne ausverkauftes Elbphilharmonie-Konzert eher ein Fehler.

Kollabierende Server, immer, wenn frische Karten online zu haben sind. Lange Schlangen an Vorverkaufsstellen. Der Pianist Lang Lang meldet sich wenige Tage vor seinem Elbphilharmonie-Debüt mit Grippe krank, von jetzt auf gleich übernimmt Igor Levit den freien Termin, und die Karten sind schneller vergriffen, als man „Kompositorische Grundprinzipien der Themenverarbeitung in späten Beethoven-Klaviersonaten“ buchstabieren kann.

Markanter Standort, schön von
allen Seiten
Markanter Standort, schön von allen Seiten © HA | Marcelo Hernandez

Auch wegen Levit, aber längst nicht nur. Denn Elbphilharmonie-Karten sind auch Tickets zum Staunen, über die Musik an sich, deren Erlebnis vielleicht neu ist. Ebenso über die Architektur, die sie umrahmt und ermöglicht und so berauschend inszeniert. Wegen des Statussymbols, das diese Stücke Papier als Gefühlsaktien nun sind und auf unabsehbare Zeit bleiben werden. In ist, wer da drin ist oder war. It-Bags kann man sich einfach kaufen. Diese Konzertkarten, deutlich günstiger, muss man sich erobern. In den vergangenen Wochen wurde überall in der Stadt über das Thema Konzertsaal-Akustik diskutiert, mit einer Eindringlichkeit, als ginge es mal wieder um die Frage, wie zweitklassig der HSV gespielt hat.

Die Aufregung über die Eröffnungszeremonie ist inzwischen fast verjährt, die Akustik ist inzwischen kein ganz so großes Rätsel mehr wie an den ersten Abenden. Das überaus anspruchsvolle und deswegen nicht unumstrittene Programm mit seinen Höhen und Tiefen ist Teil der Haus-Folklore geworden. Der akustisch unergiebige Sitzplatz hinter den Hörnern, hinter denen ausgerechnet der „Welt“-Kritiker Manuel Brug platziert wurde und sich wegen des dort Nichtgehörten mit seiner Erst-Rezension zuverlässig in die Saaldecke schraubte, wird legendäre Fußnote werden.

Wie man in den Saal spielt, so schallt es heraus

Was war sonst noch? Die qualitativ nicht problemfreien Auftritte ausgerechnet des Großer-Saal-Stammgasts, des NDR Elbphilharmonie ­Orchesters, dem man oft deutlich anhörte, wie heikel und unbeschönigend die Akustik dort sein kann. Wie man in den Saal hineinspielt, so schallt es aus ihm heraus, oder auch nicht. Tolle Orchester – Chicago, Wien, New York – gaben tolle Konzerte; nicht so tolle Orchester oder nicht so tolle Dirigenten kamen im noch unbekannten Neubau nicht so toll klar. Das Prestigeprojekt „Dudamel mit Beethoven“ blieb salzarm im Mittelmaß stecken. Wichtigster, aber auch kräftezehrendster Programmpunkt der letzten Wochen: die „Konzerte für Hamburg“ des NDR-Orchesters. Kleine Opus-Dosen, als Köder für kleines Geld, großartige Wirkung.

Ein erfahrener Maestro wie Kent Nagano überzeugte mit Jörg Widmanns „Arche“-Oratorium. Der anders erfahrene Dirigent Christian Thielemann erlebte, wie anders seine Spezialität Wagner klingen kann, wenn der Saal anders mitspielt als gewohnt. Elektrisch verstärkte Konzerte? Machbar, aber schwierig. Der Saal mit seiner steilen, riesigen Kleinteiligkeit ist dafür nicht gedacht, das hört man ihm dann an. Der Vielfalt und des Werbe-Effekts wegen wurden die Einstürzenden Neubauten eingeladen. Nett und altersmilde, doch nicht wirklich notwendig. Ebenso der Über-Mime John Malkovich, mit einer weiteren seiner alles in allem entbehrlichen One-Actor-Shows. Auch das ist eine Erkenntnis der ersten 100 Tage: Man kann fast alles im Großen Saal machen. Man muss und sollte aber nicht.

Mitunter gab es sehr sonderbare Randdebatten

Das Thema Elbphilharmonie wurde in den letzten 14 Wochen so groß, dass die Debatten darüber nicht auf die Geschehnisse in den Konzertsälen beschränkt blieb. Die Laeiszhalle, die gute alte, keinen Deut schlechter gewordene Laeiszhalle, erlebte einen höchst verdienten Beliebtheitsaufschwung, als die zweite erste Hamburger Adresse für Klassik. Und dann waren da noch die mitunter sehr sonderbaren Randdebatten: übers Klatschen an sich und überhaupt, über die sanitären Anlagen, über Taxistehplätze, Parkhausnutzerwege oder Fahrstuhlprobleme.

Langfristig wichtiger und substanzieller jedoch ist ein Satz, der sich in einer Studie der Handelskammer von 2014, aus dem Jahr drei vor der Elbphilharmonie also, über die „Musikstadt Hamburg“ nachlesen lässt: „Unsere Vision für Hamburg im Jahr 2025 ist, unsere Stadt für Fachleute, den internationalen wie nationalen Tourismus sowie für die eigene Bevölkerung als Deutschlands Musikstadt Nummer eins erlebbar zu machen.“ Und im Fazit heißt es: „Dieses Ziel ist ehrgeizig, aber nicht unrealistisch.“ Die ersten 100 Tage bis zu diesem Datum wären schon mal gut geschafft. Es darf jetzt gern noch besser werden.