Hamburg. In der Elbphilharmonie eröffnete das „New York Stories“-Festival mit dem Bagatelles Marathon von Komponist und Saxofonist John Zorn.

„Das soll ja sehr experimentell sein ... Und mehr als vier Stunden dauern ...“ – „Hab ich auch gehört, dabei reicht mir eigentlich eine Stunde Jazz schon...“ Manche der Gespräche im Foyer des Großen Saals lassen bereits vermuten, dass zum Bagatelles Marathon von Saxofonist und Komponist John Zorn nicht nur Kenner und Connaisseure der New Yorker Avantgardeszene gekommen sind. Karten kaufen, egal für was, Hauptsache rein, ist eben vielfach die Devise – was gute Seiten hat. Plötzlich ist es in Hamburg möglich, einen Konzertabend mit 2100 Besuchern zum Kassenerfolg zu machen, der in Prä-Elbphilharmonie-Zeiten mit Glück ein Zehntel des Publikums gezogen hätte. Und plötzlich setzen sich Menschen in großer Zahl einer den Horizont erweiternden Klangerfahrung aus, die ihnen früher niemals in den Sinn gekommen wäre. Win-win also.

300 zwar relativ kurze, aber häufig sehr komplexe Stücke hatte John Zorn im Jahre 2015 binnen drei Monaten geschrieben. In der Wohnung, in der er seit 40 Jahren lebt, in dem Zimmer, in dem er seit 40 Jahren arbeitet. Ein Tisch, eine Lampe und viel Ruhe: Mehr braucht es für dieses Arbeitstier nicht, dessen Kreativität keine Grenzen zu kennen scheint.

Ist das noch Musik?

Etwa vier Dutzend seiner „Bagatellen“ kommen an diesem Abend zur Aufführung, in unterschiedlichen Besetzungen vom Quartett bis zum Solo. Als Moderator fungiert Zorn selbst, der nur beim ersten der zwölf Kurzkonzerte als Musiker auf der Bühne steht und mit seinem Masada Quartet gleich mal die Richtung vorgibt. Da wird mit voller Energie geblasen, getrommelt und der Bass bearbeitet: Ist das noch Musik? Nicht jeder mag da ganz sicher sein, doch der mächtige Applaus zeigt: Zorn und Co. haben einen Nerv getroffen.

Minimale Umbaupausen und die perfekte Dramaturgie des Abends, in dessen Verlauf auf wilde auch immer wieder meditative Passagen folgen, lassen jedenfalls keine Langweile aufkommen. Fantastisch filigran: das Wechselspiel des Cello-Duos Friedlander-Nicolas. Ein Adrenalin-Spender: die furiose Free-Jazz-Metal-Mische der Drei-Mann-Band Trigger. Eine lyrische Offenbarung: die immer wieder an Debussy erinnernden Pianoläufe von Craig Taborn. Wie schnell doch die zwei Stunden bis zur Pause vergangen sind!

Seltsame Töne schwirren durch den Saal

Mancher hat danach allerdings genug gehört; einige Hundert Plätze bleiben leer, als es gegen 22.30 Uhr mit dem Gitarren-Duo Lage-Riley weitergeht, dem mit dem Nova Quartet um Pianist John Medeski der konventionellste Jazzpart des Abends folgt. Hier rollt der Groove-Express in Höchstgeschwindigkeit – maximaler Gegensatz zur Japanerin Ikue Solo, die vor ihrem MacBook sitzt und per Knopfdruck seltsame Töne durch den Saal jagt. Es schwirrt und knistert, es rauscht und pluckert. „Solche Geräusche kamen früher aus den Zimmern meiner Brüder, wenn die am PC gespielt haben“, urteilt eine Besucherin. Mag sein, aber in den Ablauf des Abends passt die schüchterne Dame, die sich zum Abschluss vor ihrem Rechner verbeugt, perfekt.

Pure Poesie

Wer dann noch Kraft hat, erlebt pure Poesie: von Pianistin Sylvie Courvoisier und Geiger Mark Feldman geradezu hingetupfte Miniaturen. Und das Kraftmeier-Finale des Trios Asmodeus mit Urgewalt Tyshawn Sorey am Schlagzeug, Flinkfinger Trevor Dunn am Bass und Avantgarde-Legende Marc Ribot an der Gitarre.

Spitzenläufer brauchen für einen Marathon gute zwei Stunden. Dieser Marathon hier dauert drei Stunden länger, und ist doch nicht weniger als das: Weltklasse.