Hamburg. Die klassische Sopranistin Simone Kermes punktet in der Zugabe mit dem größten Song von Helene Fischer.

Jetzt brechen alle Dämme. Helene Fischer in der Elbphilharmonie! Zum Mitklatschen! Kein ­verfrühter Aprilscherz. Wirklich wahr. Simone Kermes macht’s möglich. Mit einer Koloraturversion von „Atemlos durch die Nacht“ beschert sie dem großen Saal eine, gelinde gesagt, überraschende Premiere.

Kermes, die virtuose Wundertüte. Sie ist Vollblutrampensau, verrückte Nudel und Schlagerqueen in Personalunion. Und im Erstberuf ja eigentlich vor allem klassische Sopranistin von internationalem Renommee. Aber das geht im Zugabentrubel ein bisschen unter.

Mäßiger Hauptteil

Auch, weil der Hauptteil des Abends, um ehrlich zu sein, nicht so dolle war. Unter dem Motto „Love“ präsentierte Simone Kermes da ihr aktuelles Programm mit Liebesliedern und -arien aus Renaissance und Barock, begleitet vom achtköpfigen Ensemble La Magnifica Comunità auf historischen Instrumenten: Streicher, Cembalo, Schlagwerk und Laute.

Für ihren Auftritt, den sie ja immer auch als Show begreift und genießt, schlüpfte die derzeit blonde Sopranistin, wie gewohnt, in prunkvolle Roben und eigenwillige Schuhkreationen – ­darunter ein Paar Stiletto-Mutationen mit frei schwebenden Killerabsätzen – und hatte außerdem zwei junge Tänzer von der Staatlichen Ballettschule ­Berlin als Sidekicks engagiert.

Brave Choreografie

In putzigen Kostümen, irgendwo zwischen Harlekin und Schweizer Garde, und einer erstaunlich braven Choreografie, umschwirrten sie die Sängerin als stumme Begleiter. Die gelenkigen Ballettjünglinge wanden sich um ihre Füße, wenn Kermes mit Antonio Cestis Arie „Disseratevi, abissi“ die Qual der Untreue beweinte, sie rollten über den Boden oder illustrierten den Kampf der Leidenschaften mit wilden Sprüngen und eckigen Gesten – von La Magnifica Comunità knackig musiziert, und von der Elbphilharmonie-Light­show in ein kräftiges Glutrot getaucht.

Das war alles sehr farbenfroh, ­lebendig und mitunter ganz hübsch anzuschauen, ging aber fast nie richtig zu Herzen. Weil Simone Kermes auf Dauer zu viel Kirmes machte und die Ausdruckskraft der Musik damit erstickte. Von der subtilen Erotik der Werke war ebenso wenig zu spüren wie von der großen Wärme und Verletzlichkeit. Nur selten gönnte sie sich und den Hörern innige Momente, wie in Antoine Boëssets „Frescos Ayres“, das in leisen Tönen von der Trübsal der Sehnsucht erzählt.

Technische Unsicherheiten

Dort, nur von den gezupften Klängen der Laute umspielt, wäre einmal genug Raum für den zarten Zauber der Musik gewesen. Doch der entfaltete sich nur bedingt, da die technischen Unsicherheiten der Sopranistin in solchen empfindlichen Passagen besonders ungeschützt zu Tage traten. Da kennt Toyotas Akustik bekanntermaßen keine Gnade. Kermes sang hier wie im ganzen Konzert ziemlich konstant einen Tick zu tief, und auch ihre Koloraturen klangen zunächst noch nicht ganz sauber geführt.

Zumindest während des Hauptprogramms. Als die Sängerin dann aber, nach dem nur so semi-anrührenden Finale aus Purcells „Dido and Aeneas“, ihren Applaus eigenhändig anfeuert, die Besucher in der ersten Reihe abklatscht und spontan drauflos moderiert, wirkt es, als hätte sie mit der Choreografie zugleich auch ein Korsett abgelegt. Schon in der ersten Zugabe, einer Bravour-Arie des Barockkomponisten Riccardo Broschi, bewegt sie sich befreit, sie zuckt im Rhythmus wie ein Popstar – und plötzlich strömen die rasanten Läufe geschmeidig aus der Kehle; die Sprünge und Spitzentöne kommen genau auf den Punkt.

Pseudo-Bach-Fassung von „Atemlos“

Mit der fantastisch gesungenen Pseudo-Bach-Fassung von Helene Fischers „Atemlos“ gibt sie dem Arienabend schließlich eine Wendung, die alles andere überstrahlt und natürlich ausgiebig bejubelt wird. Schlagermove bei Pro Arte! Die Frau traut sich was. Man kommt aber gar nicht dazu, sich die Augen und Ohren zu reiben, weil Kermes – jetzt ganz in ihrem Element – das Publikum animiert, sich für das Antikriegslied „Sag mir wo die Blumen sind“ an den Händen zu fassen und mitzusingen.

Ähm, wie bitte? Kurze Irritation im Raum. Auf manchen Gesichtern mischt sich Faszination mit einer Prise Fremdscham. Aber es funktioniert. In den oberen Rängen stehen kleine Gruppen auf und bilden eine Kette. Ein Hauch von Kirchentag weht durch die Elbphilharmonie. Jetzt saugt Simone Kermes die Aufmerksamkeit an.

Ganze Bühne als Kommunikationsplattform

Sie nutzt die ganze Bühne als Kommunikationsplattform, sie singt in alle Richtungen und verwandelt das Publikum in einen großen Chor. Sicher, man muss das nicht mögen. Aber eins ist ganz klar: Sie hat das steife Konzertritual aufgebrochen, sie hat viele Menschen berührt und etwas bewegt. Selten so viele angeregte Gespräche zwischen wildfremden Sitznachbarn erlebt.

Mit der letzten Zugabe kehrt die Sopranistin schließlich zu ihrem eigentlichen Kernrepertoire zurück, zu Georg Friedrich Händel und dessen Arie „Lascia ch’io pianga“. Und da, gelöst vom ersten Druck des Elbphilharmonie-Debüts, singt sie so berückend schön, dass man ahnt, warum gerade sie so viele Menschen für die Barockmusik begeistert. Sonst auch ohne Unterstützung von Helene Fischer.

Chefvisite: In Elbphilharmonie klingt alles gut:

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Das ist der Beweis: In der Elbphilharmonie klingt alles gut

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