Hamburg. Die Schöne am Johannes-Brahms-Platz klingt gut wie eh und je. Daran ändert auch die coole Neue am Hafen nichts – die Elbphilharmonie.

Keine Angst, sie ist ja nicht weg. Auch wenn sich auf den letzten Metern zur Elbphilharmonie-Eröffnung manche so benehmen, als würde die Laeiszhalle am 11. Januar 2017 um 20 Uhr auf Nimmerwiederhören im Boden des Johannes-Brahms-Platzes versinken und ein großes Loch in den Spielplan reißen – Hamburgs historisch und auch sonst wertvolle Konzerthalle Baujahr 1908 wird weiterhin gut und alt bleiben. Und: besser noch, sie wird bleiben, was sie ist, und wo sie ist.

Doch genau das – so sonderbar es auch klingt – ist demnächst ihr größtes Problem. Denn der Altbau wird es in mancher Hinsicht eine Zeit lang womöglich schwerer haben als ohnehin schon, verschrien als vorgestrig, elitär, verschnarcht, überteuert, langweilig, abschreckend. Fair ist das alles natürlich nicht, im Gegenteil, es wäre verheerend, wenn die Laeiszhalle als Schwestergebäude der Elbphilharmonie nun als unnötig und flott links überholt abgeschrieben würde. Gerade ihre ästhetische Kontrastwirkung ist ideal, um die Möglichkeiten der beiden Konzertsaal-Extreme zu nutzen und zu entdecken.

Was Musik-Promis zur Laeiszhalle sagen

Es kann ja auch kein Zufall sein, dass die neobarocke Fassade der Laeiszhalle ebenso wie der Kaispeicher A in der HafenCity aus Backstein besteht, dem wichtigsten und beliebtesten Klassiker unter den hanseatischen Wahrzeichen-Zutaten. Nicht ohne Grund wurde neulich verkündet, dass es für die überfällige Sanierung des Konzerthauses und seiner Orgel 10,75 Millionen Euro vom Bund gibt.

Das Entrée riecht nach Vorkriegs-Bürgertum

Wer mit der Laeiszhalle groß geworden ist, ob leibhaftig oder bei der Prägung seines klassischen Musikgeschmacks, wird von ihr als Maß vieler Dinge in diesem Leben nicht mehr loskommen. Das Hach-ja-Omas-Wohnzimmer-Gefühl beginnt ja schon im Foyer. Es wirkt verjährt, museal, durch und durch analog, Wählscheibe statt Smartphone, Schellack statt Download. Ziemlich weit aus der Jetzt-Zeit gefallen. Sympathisch antik die beiden Kartenausgabe-Fensterchen wie aus einer Theaterkulisse; das gesamte Entrée, das nach längst ausgestorbenem Vorkriegs-Bürgertum riecht. Wie eine verstaubte Schuhkiste mit Briefen der Urgroßeltern in Sütterlin, Fürst Bismarcks gutsherrschaftlicher Staatslenkung etliche Jahrzehnte näher als Merkels pragmatischer Rauten­Republik.

Eintrittskarte Vladimir Horowitz in der Musikhalle (Laeiszhalle) am 21. Juni 1987
Eintrittskarte Vladimir Horowitz in der Musikhalle (Laeiszhalle) am 21. Juni 1987 © Deutsche Grammophon

Wenige Schritte nur, und schon ist man in den zeitlos schönen Laeisz­hallen-Spielregeln und -Eigenarten, die sich garantiert nie ändern werden. Die Laeiszhallen-Garderoben, deren Gänge angeblich deswegen so breit gebaut wurden, weil Witwe Laeisz, die resolute Geldbesorgerin für diesen Saal, bei den Architekten Martin Haller und Erwin Meerwein aus Angst vor Panik übergroße Fluchtkorridore bestellt hatte. Die operettenhafte Beschriftung der Eingangstüren. Das Gefühl, wenn sich das Blut für zwei Konzerthälften aus den Kniegelenken verabschiedet, weil sie in die Balkon-Sitzreihen geklemmt werden müssen.

Und nach wie vor friert eher die Hölle zu, als dass man früher als kurz vor Konzertbeginn ohne verwirrt fragende Blicke des Ordnungspersonals einfach so in den Erfrischungsraum kurz vor dem Durchgang zum Kleinen Saal dürfte. Immer, immer, garantiert immer wird man darauf hingewiesen, es sei aber noch kein Einlass, während die offene Tür dieser Gastronomie zum Greifen nah ist und das Gegenteil signalisiert. Eine zeitgeistige Verhübschung des Mobiliars vor einigen Jahren hat aus diesem Raum, der aussah wie eines ­dieser kunstvoll verschrobenen Bühnenbilder einer Marthaler-Inszenierung, ein deutlich charakterärmeres Bistro-Irgendwas gemacht. Den blasshölzernen Chic muss man mögen. Die Würstchen allerdings sind essbarer geworden.

Eine Ahnung davon, wie viele Orchester, Stardirigenten- und Virtuosen-Generationen im Großen Saal ihre Seele entblößten (oder auch nur routiniert ihre Abendgage zusammenspielten), vermittelt der Griff zur Garderobenmarke. Sie ist eine wunderbare, kleine Gefühlsantiquität, blank gescheuert an Tausenden von Abenden, ein Musik-Medaillon mit Erinnerungspatina. Stammgäste könnten am hellen „Pliiiing“, zielsicher in die leisen Stellen hinein, blind erkennen, dass gerade eine originale Laeisz­hallen-Garderobenmarke auf den Parkettboden gefallen ist. Noch weiß niemand, mit welchem Geräusch die kleinen Dinger auf dem Eichenboden der Elbphilharmonie ankommen; wahrscheinlich ist allerdings, dass man sie, dank der Vorarbeit des Akustikers Yasuhisa Toyota, bis in die letzte Windung der Saal-Serpentinen exzellent hören wird.

Nicht erst die Elbphilharmonie ist ein Haus für alle

Und dann erst der Klang im Großen Saal der Laeiszhalle. Dass dieser Saal zwar so heißt, aber für manches nicht groß genug ist, macht sich selten bemerkbar. Er empfängt seine Freunde mit dezenter Gelassenheit. Horowitz hat hier seine Europa-Karriere begonnen, die Callas wurde hier gefeiert. Günter Wand mit Bruckner, Claudio Abbado mit Mahler. Ingo Metzmacher mit Nono. Mariss Jansons mit Strauss. Anna Netrebko mit Bryn Terfel und einer Bierflasche. Sokolov. Immer wieder der ortsübliche Abo-Dreiklang aus NDR, Philharmonikern und Symphonikern, verziert mit Gästen von auswärts. Hunderte von Weihnachtsoratorien, Jugendorchester-Konzerten, Chor-Auftritten vor den versammelten Eltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten. Nicht erst die Elbphilharmonie war und ist ein Haus für alle, nur anders eben.

Als dieses Konzerthaus im Sommer 1908 am damaligen Holstenplatz feierlich eröffnet wurde, war es übrigens nicht das einzige und, wenn man den Geschichten von damals glauben darf, auch nicht das erste, beste Haus am Platz. Das soll, bis zu seinem Ende in den Bombennächten von 1943, der Conventgarten gewesen sein, etwa dort, wo jetzt die Kaiser-Wilhelm-Straße auf die Caffamacherreihe trifft.

Die Akustik der Laeiszhalle ist eine Welt für sich. Wer in den ersten zehn Parkettreihen sitzt, möchte womöglich besser gesehen werden als hören. Der Blick nach oben zur Bühne ist alte Schule, das Schuhschachtelformat des Saals sorgt für ein Klangbild, das manche Details diskret unterschlägt und es so einem Orchester erleichtert, besser zu klingen, als es ist. Klavierabende sind hier bestens aufgehoben, Alte Musik nicht unbedingt. Neue Musik, die oft analytische Tiefenschärfe benötigt, hat es eher schwer.

Musikgeschichten wiederholen sich nicht? Von wegen. Anno 1908 wurde vor der Eröffnung wild darüber spekuliert, wie denn nun die mit Spannung erwartete Akustik sei. Drei Wochen vor der Premiere schrieben die „Hamburger Nachrichten“, sie sei „vollständig verunglückt“, ein Probekonzert im damals größten Saal Deutschlands sei arg schlimm gewesen. Nach dem ersten Abend jedoch gab es Entwarnung im „Hamburgischen Correspondent“: „Man kann die Akustik unbedenklich als gut bezeichnen. (…) Es ist mit den Konzertsälen nicht anders als mit den Geigen. Sie wollen eingespielt sein. Was an Klang in den Mauern schläft, wird durch Klang geweckt.“ Genau so wird es im Idealfall auch mit der Elbphilharmonie sein. Die Laeiszhalle hat ihr vorgemacht, wie man für mindestens mehr als ein Jahrhundert unverzichtbar wird.