Der Generalintendant des neues Konzerthauses darüber, wie er die Saison plant. Ein paar große Stars verpflichten genügt nicht.

Es liegt auf Sofas und Küchentischen oder gar in Bädern, manchmal wellt sich das Papier, es trägt Ehrenmale intensiver Nutzung wie Eintragungen, Kaffeeflecken, Eselsohren. Nichtrepräsentative Stichproben haben ergeben: Das Buch, das zurzeit in Hamburger Haushalten mit am häufigsten anzutreffen ist, ist kein belletristisches Werk, sondern das Jahresprogramm der Elbphilharmonie.

Wenn im Januar die Türen erst geöffnet sind, die baulichen Raffinessen gebührend bewundert, alle Loblieder gesungen, dann geht’s ums Eigentliche. Um die Musik selbst. Aber welche Musik, wer spielt sie warum und für wen? Wie macht man ein Jahresprogramm?

Eine Saisonplanung dauert Jahre

Diese Frage begleitet tagein, tagaus nicht nur den Generalintendanten Christoph Lieben-Seutter, sondern jeden Veranstalter oder Ensemblechef, ob er nun eine einzelne Konzertreihe verantwortet oder ein ganzes Haus bespielt. Benedikt Stampa etwa, Lieben-Seutters Vorgänger als Intendant der Laeiszhalle und heute in gleicher Position am Konzerthaus Dortmund, vergleicht den Entstehungsprozess mit dem Kochen: „Man braucht nicht nur die richtigen Zutaten, sondern auch die Fähigkeit, sie zum Leuchten zu bringen. Auch eine Karotte will inszeniert sein.“

Mit anderen Worten: Ein paar Stars verpflichten und sie im Großen Saal ­Puccini-Arien singen oder Beethovens Fünfte dirigieren lassen, damit ist es nicht getan. Eine Saisonplanung entwickelt sich über Jahre hinweg, und der Weg ist oft ein verschlungener.

Der Intendant ist kein absoluter Herrscher. Lieben-Seutter muss sich zunächst mal an die Drucksache 21/2839 der Bürgerschaft vom 12. Januar 2016 halten, das „Fortgeschriebene Nutzungskonzept für den laufenden Spielbetrieb von Elbphilharmonie und Laeisz­halle“. Da steht etwa drin, was es auf sich hat mit dem viel zitierten „Haus für alle“, es geht um die Vielfalt des Repertoires und natürlich um Bildung. „Wir holen sie immer mal hervor, um zu schauen, ob wir noch auf Linie sind“, sagt Lieben-Seutter mit hintergrün­digem Lächeln.

Der Intendant muss viel reisen

Selbst wenn er streng auf der Linie wandelt, hat er reichlich Gestaltungsspielraum. Ein paar Eckpfeiler aber stehen schon, wenn er sich mit eineinhalb bis zweieinhalb Jahren Vorlauf einer bestimmten Saison zuwendet. Festivals oder Kooperationen mit anderen Häusern sind schon länger geplant. Er muss Fremdveranstaltungen berücksichtigen, etwa weil die örtlichen Orchester oder Veranstalter ihr Vorausbuchungsrecht genutzt haben. Den eigenen Kalender mit denen der Künstler zu vereinbaren kommt einem Puzzlespiel gleich, denn zunächst schieben Veranstalter und Agenturen nur Optionen hin und her.

Die Planung verläuft also nicht linear. Eher konkretisiert sich das Menü im Lauf der Zeit, um in Stampas Bild zu bleiben: „Man sammelt Erfahrung und verfeinert seinen Geschmack. Man muss die Vorlieben seiner Gäste kennen, aber auch die Vorlieben der Künstler.“

Dazu muss ein Intendant viel reisen. Ohne Ortstermine, ohne selbst Entdeckungen zu machen geht es nicht. Und ohne Beziehungspflege schon gar nicht. Ideen zu Programmlinien und Residenzen entstehen im Gespräch.

Gemeinsam mit den Konzertveranstaltern

Eine wichtige Rolle spielen die örtlichen Gegebenheiten. In Dortmund gibt es vergleichsweise wenig Nachfrage von Fremdveranstaltern. Lieben-Seutter dagegen ist auf den Austausch mit den anderen Hamburger Anbietern angewiesen. Vor wenigen Jahren noch sind die privaten Konzertveranstalter wegen angeblicher Wettbewerbsverzerrung durch die staatlich subventionierten Elbphilharmonie Konzerte vor Gericht gezogen, heute trifft man sich regelmäßig, schon um Doppelungen zu vermeiden. „Wenn wir etwa feststellen, dass ein Künstler von mehreren Veranstaltern gebucht ist, dann können wir ja damit kreativ um­gehen und vielleicht eine gemeinsame Mini-Residenz organisieren“, sagt Achim Dobschall, der Manager des NDR Elbphilharmonie Orchesters.

„Es ist ein Vorteil der langen Wartezeit, dass da ein Vertrauensverhältnis gewachsen ist“, sagt Lieben-Seutter. „Alle haben begriffen: Man nimmt sich gegenseitig nichts weg. Aber das muss man erst einmal am eigenen Leibe erfahren haben.“

Als die Saison 2016/17 im Mai vorgestellt wurde, noch in der Tiefgarage des künftigen Konzerthauses, da fiel beim ersten Durchblättern des Programmbuchs anders als in den Vorjahren kaum mehr ins Auge, welches Konzert eigentlich von wem veranstaltet wird. „Solange wir den Saal noch nicht hatten, war es wichtig, den Namen Elbphilharmonie Konzerte als Marke zu etablieren“, sagt der Generalintendant Christoph Lieben-Seutter. „Aber wenn wir erst mal drin sind, ist das anders. Wer eine Konzertkarte für die Elbphilharmonie kauft, dem ist es im Zweifel egal, wer der Veranstalter ist. Ab Januar zahlt jedes Konzert auf das Profil des Hauses ein.“

Natürlich will trotzdem jeder Veranstalter wahrgenommen werden. Inhaltlich geht jeder anders vor. Achim Dobschall vom NDR setzt bei der Person des Dirigenten an: „Wir wollen neben dem Chef hochrangige Gastdirigenten engagieren.“ Da gilt es dann, über die Saison ein ausgewogenes Verhältnis zwischen etablierten Dirigenten und vielversprechendem Nachwuchs zu erreichen.

Besucher sollen beim Konzert Erlebnis spüren 

Das Ensemble Resonanz will, wie es der Geschäftsführer Tobias Rempe ausdrückt, „über das Jahr hinweg eine Geschichte erzählen“. Tim Erik Winzer, Solobratscher und Programmbeauftragter, pinnt an die Wand über seinem Sofa fortlaufend Zettel mit allem, was so an Ideen, Kompositionsaufträgen und CD-Projekten oder auch fertigen Programmen in der Luft liegt. Drei- oder viermal im Jahr gehen Rempe und er in seiner Wohnung in Klausur. „Manchmal sitzen wir einfach nur da“, sagt Rempe, „schweigen oder hören ein Stück.“ Was dabei herauskommt, ist diese Saison ­exemplarisch zu erleben: Das Motto „Into the Unknown“ spielt, passend zum großen Umzug, mit der Neugier auf das Unbekannte und Fremde.

Dieter Rexroth wiederum, der mit Kent Nagano zusammen subtile, dramaturgisch mutige Programme für das Philharmonische Staatsorchester entworfen hat, geht es im Kern um etwas scheinbar Einfaches: „Entscheidend ist, dass die Leute nicht nur in einem Konzert etwas lernen, sondern ein Erlebnis spüren und mit nach Hause nehmen.“ Vom ihm stammte die Idee, den Einstand des ­Orchesters in der Elbphilharmonie mit der Uraufführung eines Oratoriums von Jörg Widmann zu geben: „Die Elbphilharmonie wird nur einmal eröffnet. Das bietet die große Chance, uns zur jugendlichen Kreativität zu bekennen.“

Es ist der Tribut eines Traditionsklangkörpers an einen Raum des 21. Jahrhunderts.