Hamburg. Janne Solcher (22) weiß lange nicht, dass sie krank ist und fällt zu oft durch eine Klausur. Wie sie um ihren Abschluss an der Uni kämpft.
Im Normalfall würde die Geschichte vermutlich so gehen: Die 22-jährige Janne Solcher aus Groß Flottbek absolviert nach einer erfolgreichen Karriere als Spitzensportlerin und einem guten Abitur ein Studium in Psychologie und macht in diesem Jahr ihren Abschluss. Aber die Geschichte von Janne Solcher ist eben nicht die eines Normalfalls.
Die Hamburgerin erkrankte während ihres Studiums an der Universität Hamburg an Depressionen. Die Diagnose kam jedoch so spät, dass sie bei einer relevanten Prüfung bereits so oft durchgefallen war, dass ihr nun die Exmatrikulation droht.
Depressionen: Die Krankheit schleicht sich langsam in Janne Solchers Leben
Laut Prüfungsordnung ist es das korrekte Verfahren. Dreimal durchgefallen bedeutet: Exmatrikulation. Was die Prüfungsordnung ebenfalls vorsieht: Wer krank ist, kann sich vor oder während der Prüfung krankmelden, aber eben nicht rückwirkend. Was aber, wenn die Krankheit zum Zeitpunkt der Prüfung noch gar nicht bekannt ist? Genau darum geht es in der Geschichte von Janne Solcher. Und sie erzählt davon, dass die Erkrankung eben nicht von heute auf morgen kommt, sondern sich ganz langsam einschleicht.
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Gemeinsam mit ihrem Vater, dem Fotografen Bertram Solcher, der ihre Erkrankung über all die Jahre dokumentiert hat, kämpft die Studentin nun dafür, dass sie ihr Studium doch noch beenden kann. Und dafür, dass junge Menschen mit Depressionen Gehör finden.
Wie es begann: Vor ihrer Erkrankung ist Janne Solcher eine gute Schülerin und eine erfolgreiche Hockeyspielerin. Mit ihrer Mannschaft beim Grossflottbeker Tennis-, Hockey- und Golf-Club (GTHGC) wurde sie zweimal Deutscher Meister und dreimal Vize-Meister. Dann kommt Corona. Was das bedeutet, ist bekannt: Online-Unterricht statt Schulbesuch, alleine trainieren statt im Team. Und Freunde zu treffen, ist auch verboten. Alles bröckelt weg, was der Hamburgerin sonst Struktur gab.
Die Corona-Pandemie markiert den Anfang von Solchers Erkrankung
Am Anfang kann sich Janne Solcher noch ganz gut mit der neuen Situation arrangieren. Aber irgendwann kippt die Stimmung. Wofür trainieren, wenn es keine Wettkämpfe gibt? Wofür sich zurechtmachen, wenn es doch keiner sieht? Es ist ein Prozess, der sich langsam einschleicht und den sie sich nicht erklären kann. Wo ist plötzlich all die Energie hin, die eben noch da war? Wieso ist sie immer so müde? Und: Wieso kann sie sich plötzlich über einfach nichts mehr freuen?
Ihr geht es nicht von heute auf morgen schlecht. Die Krankheit kriecht in ihr Leben. Es gibt auch immer wieder gute Tage. Und so packt sie ihr Abitur mit einem Durchschnitt von 2,4 und bewirbt sich um einen Studienplatz in Psychologie an der Universität Hamburg. Über die Spitzensportlerquote klappt es tatsächlich.
Universität Hamburg: Studentin schläft regelmäßig im Hörsaal ein
Die ersten Semester laufen komplett online und Janne Solcher tut sich schwer, Kontakt zu ihren Kommilitonen aufzubauen oder gar Freundschaften zu knüpfen. Außerdem ist da diese Müdigkeit, die nicht mehr weggeht, egal, wie viel sie schläft. Als das Studium im dritten Semester mit Präsenzvorlesungen fortgeführt wird, schläft sie regelmäßig im Hörsaal ein oder kann sich beim Lernen in der Bibliothek kaum mehr als 15 Minuten konzentrieren – bis ihr die Augen zufallen.
Janne Solcher kann das alles nicht einordnen. Als im Juli 2022 die Klausur „Grundlagen der Diagnostik“ ansteht, spürt sie nur, dass sie nicht dazu in der Lage ist, sich angemessen darauf vorzubereiten. Solcher geht dennoch zur Prüfung, streicht alles durch und geht wieder nach Hause. „Ich dachte, einen Fehlversuch kann ich mir leisten und dann würde es sicher beim nächsten Mal klappen“, erinnert sie sich.
Depressionen Hamburg – Janne Solcher: „Papi, ich fühl nichts mehr“
Anderthalb Monate später soll sie nachschreiben und dieses Mal glaubt sie, dass sie es schafft, obwohl es ihr immer noch schlecht geht. Wenige Tage nach der Prüfung, als Solcher noch nicht weiß, dass sie durchgefallen ist, sagt sie ihrem Vater: „Papi, ich fühl nichts mehr. Ich habe sogar schon überlegt, mich zu ritzen, um überhaupt wieder irgendwas zu spüren.“
Bei diesem Satz ist Vater Bertram Solcher sofort klar, was los ist. Der studierte Mediziner weiß instinktiv: „Janne hat Depressionen.“ Er kennt die Krankheit. Auch, weil seine Großmutter und seine Schwester ebenfalls daran litten. Und er weiß auch: „Ohne Hilfe geht es nicht.“
Sie haben Glück und finden schnell eine Psychiaterin, die Janne Solcher helfen kann. Anderthalb Wochen nach der zweiten Klausur steht dann die Diagnose schwarz auf weiß: Janne Solcher hat massive Depressionen. Und dann geht alles ganz schnell: Solcher bekommt einen Therapieplatz und Medikamente.
Universität Hamburg: Studentin war oft nur körperlich anwesend
Langsam geht es ihr dadurch etwas besser, auch wenn sie noch weit entfernt ist von ihrer alten Form. Die Konzentrationsprobleme bleiben, aber Solcher traut sich wieder mehr zu. Ein Krankheitssemester kommt für sie jedenfalls nicht infrage. Und so meldet sie ihre Diagnose auch nicht an die Uni.
Sie nimmt an fast allen Seminaren teil und sagt heute: „Ich war nur körperlich anwesend.“ Dass sie immer noch nicht studierfähig ist, sieht sie zu dieser Zeit nicht. Heute weiß sie über ihre Therapeutin, dass auch Leugnung und Selbstüberschätzung ein Teil der Krankheit sind.
Als sie die Klausur „Grundlagen der Diagnostik“ im vergangenen September zum dritten Mal schreibt, hat sie ein gutes Gefühl. Noch am selben Tag erfährt sie, dass sie erneut durchgefallen ist. Wenige Tage später kommt ein Brief von der Uni, in dem steht, dass Solchers Exmatrikulation vorbereitet wird.
Junge Hamburgerin betroffen: Janne Solcher stellt Härtefallantrag
Janne Solcher wendet sich umgehend ans Prüfungsamt, trägt ihren Fall vor und legt einen Widerspruch gegen den Bescheid ein. Außerdem stellt sie einen Härtefallantrag, dem sie auch ein Attest ihrer Psychiaterin beifügt. Darin heißt es: „Den Härtefallantrag befürworten wir aus psychiatrischer Sicht ausdrücklich, halten ihn für unbedingt berechtigt und angemessen.“ Solchers Ziel: Die ersten beiden Klausuren sollen annulliert werden, weil sie damals noch nicht wissen konnte, dass sie krank ist, die Krankheit also auch noch nicht melden konnte.
Solcher schreibt an die Uni: „Ich weiß heute, dass meine fehlgeleitete Selbsteinschätzung dieses Chaos verursacht hat. Leider war mir das weder am 05.09.2022, noch am 04.09.2023 klar, sonst hätte ich die erste Klausur abgebrochen und bereits vor Prüfungsantritt zur zweiten Klausur, oder zumindest während der Klausur erkannt, dass ich nicht leistungsfähig bin.“
Universität Hamburg: Seit rund sechs Monaten wartet Studentin auf Antwort
Es sollte bis Januar dieses Jahres dauern, dass sich der Prüfungsausschuss meldet. Da heißt es, dass man „keine Abhilfe“ leisten könne und die Unterlagen an die Widerspruchsstelle weitergeleitet habe.
Seitdem sind rund sechs Monate vergangen. Und Janne Solcher möchte dringend Klarheit. „Mich trennen vier Klausuren und ein Seminar davon, einen Abschluss in der Tasche zu haben oder mit 22 Jahren eben mit nichts dazustehen.“
Auf Abendblatt-Anfrage bei der Universität Hamburg, wie auf die Belange von Menschen mit Depressionen und anderen Erkrankungen eingegangen wird, teilt Alexander Lemonakis, Sprecher des Präsidenten, mit: „Die Universität Hamburg bedauert, dass die betroffene Studentin erkrankt und unter anderem dadurch in eine schwierige Situation in Bezug auf ihr Studium geraten ist.“
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Depressionen Hamburg – Universität: „Zahl der Betroffenen hat zugenommen“
Und er bestätigt: „Psychische Erkrankungen bei Studierenden haben während und nach der Corona-Pandemie bundesweit nachweislich zugenommen.“ Darauf habe man unter anderem reagiert, indem man bestehende Beratungsangebote ausgeweitet habe.
Da es sich in Janne Solchers Fall um ein laufendes Verfahren handle, könne man dazu nicht konkret Stellung nehmen. Allgemein sei es aber in der entsprechenden Prüfungsordnung so geregelt, dass sich Studierende zwar vor und während einer Prüfung krankmelden können, aber nicht, nachdem sie abgegeben haben.
Aus Gründen der Gleichbehandlung müssten sich die Prüfungsausschüsse bei ihren Beurteilungen an diese Regelungen halten. Dennoch betont Lemonakis: „Der Universität Hamburg ist bewusst, dass Studierende mit Krankheiten oder Behinderungen unter Umständen andere Unterstützungsformen im Studienverlauf benötigen.“ Betroffene könnten sich bei allen Anliegen an entsprechende Anlaufstellen der Uni wenden.