Hamburg. Für viele sind sexuell übertragbare Infektionen ein Tabuthema: Eine Harvestehuderin möchte das ändern – auch aus persönlichen Gründen.
Es ist ein Thema, das bei den meisten Menschen wohl nicht gerade positive Emotionen auslöst, und es eignet sich vielleicht auch nicht als Gesprächsstoff für lockeres Flirten in der Kneipe. Aber: Es ist etwas, das im Zweifelsfall ganz schön juckt – und deswegen auch mehr Menschen jucken sollte: Geschlechtskrankheiten.
Einige Menschen haben sie, doch nur wenige sprechen offen oder sogar gerne darüber. Eine Frau in Hamburg möchte das ändern: Nina Hannemann.
Geschlechtskrankheiten: Hamburgerin verkauft Tests für Zuhause
Die 31-Jährige lädt zum Interview in ihre Wohnung in Harvestehude ein. Die selbstbewusst auftretende Frau im rosafarbenen Blaser führt durch ihre im Hygge-Style eingerichtete Wohnung, der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen dringt in die Nase. Ästhetik, die wohlfühlen lässt. Mit ihrem Herzensthema hingegen stößt die Hamburgerin oft auf Ablehnung, auf verwirrte Blicke, auf Scham.
„Horny Hive“ heißt die Marke, die sie zusammen mit ihrem Geschäftspartner Jered Fastner ins Leben gerufen hat. Seit September 2022 verkaufen sie in ihrem Online-Shop Schnelltests für Geschlechtskrankheiten. Die Tests erkennen unter anderem Chlamydien, Syphilis, eine Harninfektion und sogar HIV. Der Test lässt sich ganz einfach zu Hause durchführen, ganz anonym, ohne den vielleicht schambehafteten Weg zum Arzt.
Nina Hannemann möchte das Thema enttabuisieren
Die Tests werden mit einem neutralen DHL-Etikett verschickt, als Füllmaterial fungiert ökologisch abbaubares Popcorn. Doch Hannemann möchte nicht nur die Tests verkaufen: Sie möchte auch für Aufklärung sorgen, dem Thema eine Bühne bieten, es enttabuisieren.
„Geschlechtskrankheiten sind schlicht auch Infektionen – ja, sie kommen durch Sex. Aber wir sind im Jahr 2023: Wollen wir wirklich immer noch so tun, als hätten wir keinen Sex?“ Der verbreitete Gedanke, dass man Geschlechtskrankheiten nur bekomme, wenn man ein verruchtes Sexleben führe oder „unhygienisch“ sei, ist für Hannemann nichts anderes als „Bullshit“.
Viele Menschen in Deutschland haben Geschlechtskrankheiten
Offizielle Zahlen sprechen für sich: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stecken sich täglich eine Million Menschen weltweit mit einer Geschlechtskrankheit an. Allein in Deutschland bekommen nach Schätzungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) etwa 300.000 Frauen jedes Jahr eine Chlamydien-Infektion – im schlimmsten Fall können Betroffene keine Kinder mehr bekommen.
Aus Zahlen von Statista geht außerdem hervor, dass im Jahr 2021 knapp 100.000 Menschen in Deutschland mit HIV/Aids lebten. Und auch Syphilis-Erkrankungen nehmen wieder zu: Während es im Jahr 2009 noch 2735 Fälle waren, wurden im Jahr 2019 knapp 8000 Fälle gezählt. Zudem infiziere sich fast jeder sexuell aktive Mensch mindestens einmal im Leben mit HPV-Viren, die bei Frauen zu Gebärmutterhalskrebs führen können. Kurz um: Geschlechtskrankheiten sind kein Nischen-Thema.
Horny Hive: Gründerin Nina Hannemann war selbst betroffen
Auf die Idee mit den Tests seien sie und ihr Geschäftspartner „über Umwege“ gekommen: „Wir saßen im Park, haben Bier getrunken und gesagt: Lass mal was machen, was Mehrwert bietet,“ erzählt Hannemann.
Was nach einem klischeehaften Start-up-Traum klingt, sei tatsächlich so passiert. Die zwei Freunde, die sich aus der Schule kennen, haben sich dann überlegt, welche Werte ihr neues Projekt haben soll: Es soll jung, frisch, sozial, neu sein.
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Und dann kamen mehrere Sachen zusammen, die sie zu Horny Hive geführt haben. Auch persönliche Betroffenheit spielte eine große Rolle: „Ich war 25 Jahre alt, als ich die Diagnose HPV bekommen habe“, erklärt Hannemann. Der Arzt sagte ihr, dass sie gleich mehrere Risikogruppen HPV habe und dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sei, dass sie in den nächsten zwei Jahren Gebärmutterhalskrebs bekommt. Behandeln könne man es nicht, sie müsse nun regelmäßig zur Kontrolle.
Hamburgerin sorgt auf Instagram für Aufklärung
Kinder haben, ein sorgenfreies Sexualleben führen – das alles stand für Hannemann auf der Kippe. „Dann hab‘ ich erstmal angefangen, mich darüber zu informieren. Und war geschockt, dass ich so wenig wusste“, gibt Hannemann zu. Auch in ihrem Umfeld beobachtete sie ein großes Wissensdefizit – einfach, weil die meisten nicht darüber sprechen.
Deswegen startete Hannemann damit, auf Social Media für Aufklärung zu sorgen: „Ich bin keine Influencerin, das ist nicht meine Welt – aber ich sehe ein, dass man durch Instagram viele Menschen erreichen kann.“ Sie merke immer wieder in Gesprächen, dass viele Menschen große Angst haben, sich mit Geschlechtskrankheiten anzustecken.
Geschlechtskrankheiten werden in Schulen und Familien wenig thematisiert
In der Schule werde das Thema durch begrenzte Zeit für Hannemann zu „stiefmütterlich bis gar nicht behandelt“. Auch in vielen Familien wird ihrer Meinung nach nur selten oder wenig darüber gesprochen, und Ärzte hätten oft nicht die Zeit, um über die Infektionen ausführlich aufzuklären. Wer dann im Ernstfall Doktor Google um Hilfe bittet, wird mit Horrorszenarien und Falschinformationen bombardiert.
„Deswegen ist es mir ein großes Anliegen, Menschen zu informieren und zu zeigen: Es ist kein Drama“, erklärt Hannemann. Die meisten Geschlechtskrankheiten sind behandel- beziehungsweise heilbar. „Wenn das jeder wüsste, wäre die Schamgrenze nicht so hoch, mit potenziellen Sexualpartnern darüber zu sprechen.“ Auch um Diskriminierung und Ausgrenzung vorzubeugen, sei Aufklärung wichtig.
Horny Hive bietet auch Vorträge für Schulklassen und Unis an
Horny Hive bietet auch für Schulen, Unis oder andere Einrichtungen Vorträge zu dem Thema an. Hannemann hat mehrere Fortbildungen bei der Ärztekammer absolviert – sie möchte jedoch nicht einen rein medizinischen, sondern vor allem einen menschlichen, nahbaren Ansatz verfolgen.
Vielen Menschen schreiben ihr auf Instagram – entweder als Feedback zu den Produkten, aber auch für Fragen. Sie weise stets darauf hin, dass sie keine medizinische Beratungsstelle sei – jedoch vermittelt sie an solche und gibt vorab Einschätzungen. Wenn jemand Symptome habe, ist ihr Rat ganz klar: Sofort zum Arzt.
Gynäkologe schätzt die Selbsttests als „nettes Add-On“ ein
Diese Einschätzung teilt auch Gerhard Gebauer, stellvertretender Landesvorsitzender des Berufsverbands der Frauenärzte und Gynäkologe in der Asklepios Klinik Barmbek: Er hält die Selbsttest für Zuhause für ein „nettes Add-On“, also eine nette Ergänzung, weist jedoch daraufhin, dass das Ergebnis des Tests stark von der richtigen Durchführung abhänge.
Zudem könne der Test auch ein falsch-positives oder falsch-negatives Ergebnis anzeigen: Nutzer sollten sich also darüber informieren, welche Grenzen die Tests haben und wie sicher sie sind. Die Schnelltests seien demnach durchaus sinnvoll, vor allem im Hinblick auf die Gefahr, zukünftige Sexualpartner und -parterinnen anzustecken. Jedoch ersetzten sie nicht die qualitativ hochwertigeren Tests beim Arzt und natürlich auch keine ärztliche Behandlung.
„Das Thema Geschlechtskrankheiten betrifft jeden sexuell aktiven Menschen“
„Das Thema Geschlechtskrankheiten betrifft jeden sexuell aktiven Menschen“, erklärt Hannemann. Natürlich seien Menschen mit häufig wechselnden Sexualpartnern gefährdeter als solche, die beispielsweise in einer langjährigen, monogamen Beziehung leben. Und dennoch – auch an Orten, wo man es vielleicht erst nicht erwartet, gebe es laut Hannemann eine hohe Rate an Geschlechtskrankheiten: Zum Beispiel in Seniorenheimen.
„Oft spricht man älteren Menschen sexuelle Bedürfnisse ab, aber auch hier ist Verhütung ein Riesenthema“, erklärt die Hamburgerin. „Ich wäre die Erste, die sich auch in Seniorenheimen hinstellen und sagen würde: So Ladys and Gentlemen, ich erzähle euch heute mal was über Geschlechtskrankheiten.“
Horny Hive: Hannemanns Oma ist „die coolste Frau der Welt“
Überrascht war Hannemann von der Reaktion ihrer 91 Jahre alten Oma, als sie ihr von Horny Hive erzählte: „Endlich spricht mal jemand darüber, bei mir hat nie jemand darüber gesprochen“, habe sie gesagt.
„Meine Oma fragt mich auch ganz offen, wenn wir in einem schicken Restaurant sitzen, im lauten Sprechton: ‚Ich hab‘ hier jetzt aber noch mal ‘ne Frage zu Syphilis‘“, lacht die Hamburgerin. Sie sei sehr stolz auf ihre Oma, die laut Hannemann „die coolste Frau der Welt“ ist. Es sei toll, wie offen und selbstbewusst sie mit dem Thema umgeht, ohne ein Tabu daraus zu machen.