Hamburg. Das zwei Tage alte Küken war vom Haus gestürzt. Ein Verein kümmert sich um Hamburgs Graugänse. Wie es dem Küken geht.

Die Mutter hat Schuld. Weil sich eine Graugansmutter unglücklich in ihrem Nest drehte, stürzte eines ihrer vier Küken aus dem dritten Stockwerk eines Hauses am Mittelweg im Bezirk Eimsbüttel. Ein Verein aus Hamburg kümmert sich seit acht Jahren um Hamburgs Graugänse und hat das zwei Tage alte Küken gerettet. Doch wie geht es mit dem Küken nun weiter? Und warum brüten Graugänse eigentlich an Hausfassaden?

Das Haus am Mittelweg ist Simon Hinrichs, Projektleiter Gans Hamburg beim Verein Neuntöter e.V., bekannt. Seit zwei Jahren schon brütet eine Graugansmutter dort in einem Balkonkasten ausgerechnet im dritten Stock. Sobald die Gänseküken, auch Gössel genannt, schlüpfen, ruft der Hauseigentümer bei Herrn Hinrichs an, damit die Gänsefamilie ans Wasser umgesiedelt werden kann.

Graugans in Eimsbüttel: Die Vogelmutter hat zu nah am Abgrund gebrütet

Dabei ist es zu dem Unglück gekommen. „Die Gänsemutter hat sehr nah an der Gebäudekante gebrütet, und als sie sich im Nest gedreht hat, hat sie versehentlich eines ihrer vier Küken heruntergeschubst“, sagt Hinrichs.

Mutter Gans und ihre übrigen drei Küken brachten freiwillige Helfer zu Vater Gans ins Alstervorland. Rund 20 ehrenamtliche Helfer engagieren sich bei dem Projekt „Gans Hamburg“. Ziel ist es herauszufinden, was aus den nachfolgenden Generationen der ehemals wieder angesiedelten Gänsen geworden ist und wie einzelne Bereiche im Stadtgebiet und außerhalb genutzt werden.

Gänse: Weil der Verein die Wasservögel beringt, wurde Vater Gans schnell gefunden

Zusammen mit der Vogelwarte Helgoland beringt der Verein Hamburgs Gänse, den Vater zu finden war deshalb gar nicht so schwer: „Eine Helferin hat sich mit einem Fernglas auf die Suche gemacht“, so Hinrichs. Dabei guckte die Helferin nach einer alleinstehenden, beringten Gans. Das war der Vater. Denn normalerweise sind Gänse als Paar unterwegs.

Nun kann sich der Gänsevater, so wie es die Natur vorsieht, als Beschützer um seine Familie kümmern. Simon Hinrichs erklärt: „Dieser Gänsevater ist noch unerfahren und hat das Schlüpfen seiner Küken verpasst und war daher nicht in der Nähe.“ Er muss das Vatersein noch erst üben.

Graugänse in Hamburg: Rund 600 Brutpaare gibt es in der Stadt

Denn Gänseväter bewachen als Beschützer das Nest, sind daher eigentlich immer in Rufweite. Ganz gentlemanlike begleiten die Herren außerdem zweimal täglich die Gänsemutter als Bewacher, wenn diese sich außerhalb des Nestes erleichtern und fressen muss. „Das Nest wird in der Zeit von der Gans zum Schutz abgedeckt“, so Hinrichs.

Derzeit, so schätzt Simon Hinrichs, gibt es um die 600 Brutpaare in Hamburg. Bei der letzten Zählung 2017 waren es 550. Er erklärt auch, warum immer mehr Gänse auf Balkonen oder in Hausfassaden brüten: „Die vielen Flachbauten mit Dachterrassen an den Gewässern wirken auf die Gänse wie begrünte Felsvorsprünge – so wie an den Fjorden Norwegens zum Beispiel.“ Ideale Brutstätten, finden die Gänse offenbar.

Gans in Hamburg: Das Küken wurde zur Wildtierstation bei Elmshorn gefahren

Happy End für Familie Gans, jedenfalls fast. Denn das herabgestürzte Küken machte einen verletzten Eindruck und konnte an der Familienzusammenführung nicht teilhaben.

Stattdessen brachte eine Freiwillige das Küken mit dem Auto zur Wildtierstation Hamburg/Schleswig-Holstein in die Nähe von Elmshorn. Und typisch Gänsekind piepte das Kleine während der gesamten rund 40 Minuten langen Fahrt in dem Karton, rief nach seiner Gänsemama. Damit das Küken nicht auskühlte, hatte der Verein Neuntöter den Karton mit wärmenden Beuteln ausgelegt.

Gänseküken aus Hamburg: In der Wildtierstation kann es planschen

Emilia Wendt von der Wildtierstation Elmshorn nahm das zwei Tage alte Graugansküken entgegen.
Emilia Wendt von der Wildtierstation Elmshorn nahm das zwei Tage alte Graugansküken entgegen. © Genevieve Wood | GeneviÈVe Wood

Die gute Nachricht: Das Gänseküken ist wohlauf! Es kam sofort in eine Wärmebox – denn Mama Gans kann ja nicht für die notwendige Wärme sorgen. Sina Schröder, angehende Tierpflegerin in der Wildtierstation: „Es hat außerdem eine kleine Wasserschale zum Planschen. Enten und Gänseküken sind gleich selbstständig und gehen ins Wasser.

Aber hier fehlt die Mutter, um das Küken aus dem Wasser zu holen, wenn die Kräfte schwinden.“ Daher also nur wenig Wasser. Es frisst und scheint nach einem ersten Tierarztcheck keine Verletzungen zu haben.

Hamburger Graugansküken darf später in die Freiheit

Gänseküken lernen durch Imitieren. „Wir zeigen also mit unseren Fingern, wie Gras und Körner aufgepickt werden, die Gans macht es dann nach“, erklärt Sina Schröder. „Es hat schnell gelernt.“ Es gab Vogelmiere und Brennnessel.

Schön für das Küken: In einigen Tagen werden Entenküken in der Wildtierstation erwartet, die dort schlüpfen. Dann hat das Küken quasi Artgenossen und Stiefgeschwister. Wenn das Küken gesund bleibt, geht es es zum Fliegenüben auf eine eingezäunte, fuchssichere Wiese.

Und eines Tages kann das Hamburger Graugansküken dann in die Freiheit fliegen. Die Helfer in der Wildtierstation vermuten, dass es dann Richtung Elbe fliegen wird.