Hamburg. Der dramatische Einsatz in Harvestehude hat ein juristisches Nachspiel: Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.

Alice J. hielt bis zuletzt telefonischen Kontakt mit dem Disponenten in der Notrufzentrale der Feuerwehr. Als Feuerwehrleute am 12. März an der Werderstraße eintreffen, steht das Erdgeschoss der Stadtvilla im Vollbrand, die Flammen haben sich fast bis zum Dachstuhl hochgefressen. An einem Fenster im Obergeschoss stand gerade noch Alice J. Doch plötzlich ist die 17-Jährige verschwunden – höchste Eile ist geboten.

Ein Feuerwehrmann findet nicht einmal mehr die Zeit, sich den Atemschutz aufzusetzen. Per Drehleiter rettet er die bewusstlose 17-Jährige, bringt sie ins Freie. Dort wird sie reanimiert und in ein künstliches Koma versetzt. Vier Tage später erliegt das Mädchen im Krankenhaus seiner Rauchgasvergiftung.

Ermittlungsverfahren gegen Hamburger Feuerwehr

Alice J. ist eine von neun Menschen, die seit Januar bei Wohnungsbränden in Hamburg ums Leben gekommen sind. Alles sah bisher nach einem tragischen Unglück aus. Doch jetzt leitet die Staatsanwaltschaft gegen die Hamburger Feuerwehr ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung ein. Das Verfahren (7300 Js 80/18), angedockt beim Dezernat Interne Ermittlungen (DIE), wirft eine brisante Frage auf: Hätte das Leben des Mädchens gerettet werden können?

Untersucht werde, ob der Tod der 17-Jährigen Folge von Fahrlässigkeit oder schlicht ein Unglück gewesen sei, sagte Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, und bestätigte damit einen Bericht der „Bild“-Zeitung. „Das Verfahren richtet sich nicht konkret gegen einen Feuerwehrbeamten. Es wird geprüft, ob im Rahmen des Einsatzes durch Feuerwehrbeamte Pflichtverletzungen begangen wurden.“

Insbesondere werde untersucht, ob es zu „vermeidbaren Zeitverzögerungen“ gekommen sei. Nach Abendblatt-Informationen wird auch ermittelt, ob beim Anfahren der Drehleiter Fehler gemacht worden sind, die die Rettung unnötig in die Länge zogen. Die Feuerwehr soll damals mehrere Anläufe gebraucht haben, um die Leiter in Stellung zu bringen, berichteten Augenzeugen.

Die Beamten waren offenbar nicht zu spät am Brandort

Zu spät am Brandort eingetroffen ist sie offenbar nicht. Wie Feuerwehrchef Klaus Maurer bei der Vorstellung des Jahresberichts am Mittwoch sagte, habe die Feuerwehr bei allen neun Bränden, die seit Januar tödlich endeten, die Hilfsfrist gewahrt. Bedeutet: Die Feuerwehr war mit dem ersten Einsatztrupp innerhalb von maximal acht Minuten nach der Alarmierung bei der brennenden Stadtvilla.

Ins Rollen gekommen sei das Verfahren durch Hinweise aus der Nachbarschaft während des förmlichen Todesermittlungsverfahrens, so Frombach. Ein abschließendes Gutachten zur Brandursache liegt noch nicht vor. Die Polizei geht bisher von einem technischen Defekt aus.

Es gab bereits ähnliche Verfahren – aber nur selten

In der Vergangenheit habe es ähnliche Verfahren gegeben, sagte ein ehemaliger DIE-Ermittler dem Abendblatt. „Das waren aber absolute Einzelfälle.“ Sie hätten sich gegen Einsatzkräfte vor Ort und gegen Disponenten in der Feuerwehr-Leitstelle gerichtet. So habe es Anschuldigungen der „unterlassenen Hilfeleistung“ gegeben – etwa wenn der Vorwurf im Raum stand, ein Disponent habe nicht die richtige oder überhaupt keine Anleitung zur Ersten Hilfe an den Anrufer durchgegeben, wenn dieser wegen einer Erkrankung 112 gewählt hatte.

Die Ermittlungen können sich dann auf die Telefonate stützen: Anrufe, die bei der Feuerwehr über den Notruf eingehen, werden protokolliert. In anderen Fällen seien Vorwürfe gegen die Einsatztaktik erhoben worden. Zumeist seien solche Anzeigen von Betroffenen oder Hinterbliebenen gestellt worden. „Eigentlich steht dann der Vorwurf im Raum, dass man anders hätte vorgehen können“, so der ehemalige DIE-Beamte. Das seien „undank­bare Verfahren“. Anzeigende seien in dem Fall oft „hoch emotionalisiert“.

Keinen Feuerwehrmann ließ die Tragödie unberührt

Die juristische Aufarbeitung ist das eine. Doch gibt es bei diesem Einsatz noch eine sehr menschliche Ebene: Keinen Feuerwehrmann ließ die Tragödie unberührt. „Das war ein schlimmer Einsatz; jeder, der Kinder hat, kann das nachempfinden“, sagte ein Feuerwehrmann kurz nach dem Brand. Zumal Feuerwehrleute grundsätzlich nichts unversucht lassen, um Menschenleben zu retten. Es ist die oberste Direktive ihres Handelns.

Nicht anders war es bei dem Einsatz an der Werderstraße. Da ist der Feuerwehrmann, der ohne Atemschutz über die Drehleiter zu der 17-Jährigen eilte und eine Rauchgasvergiftung erlitt. Da ist sein Kollege, der sich bei den Löscharbeiten die Schulter verbrühte. Und da ist ein Feuerwehrmann, der sich eine Handverbrennung durch herabfallende Deckenelemente zuzog. „Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Kollegen alles Menschenmögliche getan haben, um die junge Frau zu retten“, sagt Daniel Dahlke, Landesvorsitzender der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft (DfeuG).