Hamburg. In dem Haus lebten erst Juden, dann auch Nazis. Der Hamburger Lichtkünstler Michael Batz schrieb es auf. Heute erste Lesung.
Manchmal geben Wohnungen unerwartet ihre Geheimnisse preis. Im Haus Rothenbaumchaussee 26 wurde vor einigen Jahren bei Bauarbeiten unter der Diele ein Päckchen entdeckt. Bereits seine Form offenbarte, dass sich darin sorgsam verpackt ein Musikinstrument befand: eine Klarinette, die unter dem Fußboden – vor wem auch immer – versteckt worden war.
Der Hamburger Autor, Dramaturg, Regisseur und Lichtkünstler Michael Batz hörte jüngst diese Geschichte von jenem Instrument, das sich heute im Privatbesitz befindet. Und wurde neugierig. Das Geheimnis des Blasinstruments konnte er nicht lüften, dafür aber die Geschichte der Bewohner im Haus Nr. 26 – und zwar in den Jahren von 1922 bis 1955. Juden lebten damals in den 220 Quadratmeter großen Wohnungen ebenso wie später Nazis.
Es waren Fünf-Zimmer-Wohnungen mit Bad, Balkon, Loggia und Mädchenzimmer, zu denen ein Personen-Aufzug der Firma Carl Flohr Bewohner wie Gäste geleitete. Wohnungen mit Stuckengeln und himmlischem Segen, scheinbar gebaut für die Ewigkeit.
In einjähriger Recherchearbeit spürte Michael Batz den Namen der früheren Eigentümer, ihren Biografien und Schicksalen nach. Am Anfang stand oft nur eine kleine Notiz im Hamburger Adressbuch. Am Ende häufig das Todesdatum.
Was Batz an biografischen Bruchstücken in den Archiven des In- und Auslandes fand, brachte er jetzt zu Papier. Entstanden ist ein einzigartiges Dokumentarstück über die Geschichte eines einzigen Hauses – „Das Haus des Paul Levy“. Am heutigen Mittwoch, dem Gedenktag an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, wird es während der offiziellen Feierstunde der Bürgerschaft im Rathaus erstmals aufgeführt (nur für geladene Gäste). Dabei erklingt auch die Klarinette aus dem Dielen-Versteck.
Hamburg in den 1920er-Jahren. Die Stadt erlebt einen Bauboom. Die Gebrüder Gerson, zwei jüdische Architekten, haben gut zu tun. Die privaten Bauherren schätzen die Eleganz ihrer entworfenen Villen und Landhäuser. Schließlich erhalten Hans und Oskar Gerson den Auftrag der „Wohnhaus Rothenbaum GmbH“, ein modernes Gebäude an der Rothenbaumchaussee 26 zu entwerfen.
Beeindruckende Lichtinstallationen von Michael Batz
Es ist das erste baugenossenschaftliche Projekt in der Hansestadt, das ohne staatliche Zuschüsse auskommt. Die Bank M.M. Warburg & Co finanziert den fünfgeschossigen Bau mit insgesamt zehn Eigentumswohnungen. Der jüdische Bankier Paul Levy unterstützt das Projekt.
Aber die Pläne der liberalen Juden stoßen beim Pöseldorfer Bürgerverein auf wenig Gefallen. Es sei das Geschmackloseste, was in diesem Viertel gebaut worden sei, kritisieren die Vereinsvorständler. Sie fühlen sich durch die dunkelrote Klinkerfassade eher an die dröge Kulisse von Gefängnissen und Kasernen erinnert. Daran ändert auch der Löwe nicht, der über dem Portal sich ans Holz schmiegt und den jüdischen Stamm Juda symbolisiert.
Nach der Fertigstellung im Jahr 1922 ziehen vor allem Hamburger jüdischen Glaubens in das Haus Nr. 26, darunter Manager der Warburg-Bank. Zu den Bewohnern der ersten Stunde zählen Rudolf Magnus, Fritz Liebmann, Richard Behr und der Juwelier Julius Polack.
Mehr als zehn Jahre später werden neben den Juden allerdings auch zunehmend Nazis die neuen Eigentümer. Sie wissen den Komfort und die zentrale Lage zu schätzen, wie Professor Theodor Heynemann, nach dem noch heute in Langenhorn eine Straße benannt ist.
Der Apothekersohn aus Lemgo arbeitet sich in Hamburg bis zum Chef am „Krankenhaus Barmbeck“ und dann zum Ordinarius für Gynäkologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) empor. In den zweiten Stock des Hauses Nr. 26 zieht er gemeinsam mit seiner Haushälterin, nachdem die Jüdin Anna Levy, die Witwe Paul Levys, aus Nazi-Deutschland und somit aus ihrer Wohnung geflohen war. Die Eigentumswohnung wird „arisiert“. Heynemann, inzwischen erster Direktor der UKE-Frauenklinik, ist ein glühender Anhänger des Rassenprogramms der Nazis und nimmt Zwangssterilisierungen vor. 1936 beschwert er sich bei den Behörden über den Rückgang der Überweisungen von Patientinnen. Eugenisch motivierte Sterilisationen gehören seiner Ansicht nach „unbedingt in den akademischen Unterricht“, schreibt er – und bekommt prompt Nachschub. 1950 wird Heynemann emeritiert. Er stirbt 1951 an den Folgen von Diabetes.
Die historischen Aussagen fügte Batz zu einem szenischen Ganzen zusammen
Im Dokumentarstück von Michael Batz heißt es: „Heynemann operiert auf Anordnung des Staatlichen Gesundheitsamtes gegen den Willen der Eltern in dafür gesonderten Räumen u. a. die 18-jährige Angela Baldy, vom Erbgesundheits-Obergericht Hamburg für schwachsinnig befunden.“
Um die Namen der einstigen Hausbewohner herauszufinden und ihren weiteren Lebensweg zu erforschen, nutzten Michael Batz und sein Team rund 15 europäische Archive – vom Staatsarchiv Hamburg und dem Abendblatt bis hin zu Einrichtungen in Barcelona, Posen und Paris.
Die historischen Aussagen fügte Batz in dem Dokumentarstück zu einem szenischen Ganzen zusammen. Das „Haus des Paul Levy“ setzt die bislang 16 Lesungen der vergangenen Jahre zum Gedenken an die nationalsozialistischen Opfer fort. Für das Werk wurden Akten aus Bau-, Ermittlungs-, Straf-, Kranken- und Wiedergutmachungsverfahren verwendet. „Es ist der O-Ton der Vergangenheit, der zur Sprache kommt“, sagt Michael Batz.
Mit der Vernichtung der Juden und der Verfolgung von NS-Gegnern rückt das „Haus des Paul Levy“ in den 1930er-Jahren einmal mehr ins Zentrum. Denn nahe dem Gebäude – auf der Moorweide – befindet sich der Platz der Deportationen. Und an der Rothenbaumchaussee 38 die Folterkeller der Gestapo. Immer wieder müssen die Anwohner darum bitten, dass die Gestapo die Fenster schließt, damit die Schreie der Folteropfer nicht zu hören sind. Je mehr Juden aus dem Haus mit dem Löwen vertrieben werden, umso mehr Nazis ziehen ein. Neuer Miteigentümer wird der Zahnarzt und Tennisstar Walter Dessart, SS-Mitglied und Leutnant der Reserve. Der deutsche Daviscup-Spieler gewinnt dreimal die Tennismeisterschaft am Rotherbaum.
Neue Bewohnerin ist auch die Opernsängerin Gusta Hammer, die während des Krieges mit einem Sonderzug nach Norwegen fährt, um die Wehrmachtssoldaten mit ihren Liedern bei Laune zu halten. Die Altistin singt in Barcelona und nach Kriegsende wieder in Hamburg. Zum Beispiel aus der Oper „Elektra“: „Ich habe keine guten Nächte.“ Sie stirbt 1977 in München.
Heute sind in dem Haus ein Forschungsinstitut und eine Casting-Agentur
Und da ist noch die Geschichte eines Verrats zu erzählen, die sich ebenfalls unter dem Dach des Hauses ereignete. Sie handelt von Wilhelm und Margaretha Lieb und damit von den Besitzern der Fußklinik Große Bleichen, Spezialisten für Hühneraugen, Hornhaut und Schwielen. Beide sind überzeugte Nazi-Gegner. Wilhelm Lieb wird von einer Mitarbeiterin denunziert und muss wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ ins Gefängnis.
Zwischen den Eheleuten entbrennt ein Rosenkrieg, bei dem es nicht zuletzt um die Besitzansprüche an die Fußklinik geht. Ausgerechnet die Nazi-Gegnerin bedient sich eines NS-Anwalts. Im Dokumentarstück heißt es: „Margaretha Lieb klagt Wilhelm Lieb mit Hilfe des alten Kämpfers der NS-Bewegung (...) entschädigungslos aus der Firma. Lieb kommt in das Straflager Glasmoor.“ Nach Kriegsende sollte der Streit weitergehen.
Wer heute das Haus in der Rothenbaumchaussee 26 betritt, weiß nicht wirklich, welche Schicksale sich unter seinem Dach einst ereigneten. Hier befindet sich inzwischen eine Praxis für Innere Medizin und Traditionelle Chinesische Therapie, ein Forschungsinstitut für Darmerkrankungen und eine Casting-Agentur. Der Löwe über der Tür hat all diese Geschichten aus der Vergangenheit für sich bewahrt. Aber einige von ihnen sind nun bekannt.
Das Dokumentarstück wird am heutigen Mittwoch im Festsaal des Rathauses vor geladenen Gästen aufgeführt. Am Donnerstag gibt es eine Veranstaltung für Schüler. Für den 29. Februar ist eine Lesung im Bucerius-Kunst-Forum geplant (20 Uhr, Eintritt 10 Euro). Sprecher sind Jantje Billker, Isabella Vértes-Schütter, Erik Schäffler und Gustav Peter Wöhler.