Hamburg. Am Dammtorbahnhof macht ein Denkmal auf die Transporte aufmerksam, die 1938/39 jüdische Kinder nach England in Sicherheit brachten.
Es lässt sich nicht ermessen, was es für diese Kinder bedeutet hat: von einem auf den anderen Tag für immer Abschied zu nehmen, von den Eltern, den engsten Angehörigen, von Freunden und Mitschülern. Buchstäblich über Nacht alles zu verlassen: das Elternhaus, die Schule, die Heimatstadt, das Vaterland und die Muttersprache. Nicht vorstellbar, wie es sich angefühlt haben muss, den Koffer zu packen mit nur ein paar Kleidungsstücken. Der geliebte Teddy, die Puppe, überhaupt jedes Spielzeug mitzunehmen, war oft verboten. Ein einziges Foto durfte zur Erinnerung an das alte Leben eingepackt werden, dazu zehn Reichsmark – und auch das wenige Geld haben die deutschen Beamten bei der Ausreise häufig beschlagnahmt.
Wie soll ein Kind begreifen, dass es alles hergeben muss, um das Leben zu retten? Die Züge, die von Ende 1938 bis zum Sommer 1939 von mehreren deutschen Städten, auch von Hamburg aus Richtung Westen rollten, waren für 12.500 jüdische Kinder die einzige Rettung. Sie waren traumatisiert, verängstigt, entwurzelt und verzweifelt. Aber in England konnten sie den Krieg und den Holocaust überleben, anders als die meisten ihrer Angehörigen, die sie nie wieder sehen sollten.
An ihr Schicksal erinnert am Dammtor-Bahnhof seit Mittwoch ein Denkmal, das der israelische Bildhauer Frank Meisler gestaltet hat. Er stammt aus Danzig und ist als Zehnjähriger im August 1939 mit 14 weiteren Kindern nach England gebracht worden. Schon kurz nach der Abfahrt des Zuges hat die Gestapo seine Eltern verhaftet und ins Warschauer Ghetto deportiert, später wurden sie in Auschwitz ermordet. Meisler hat eine realistische und eindringliche Bildsprache gefunden und eine Figurengruppe aus Bronze geschaffen: Zwei Kinder, die sich in Richtung Bahnhofseingang wenden, symbolisieren die Flüchtlinge, fünf weitere die zurückgebliebenen Geschwister und Freunde.
Zur feierlichen Einweihung, an der auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau teilnahm, würdigte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die Kindertransporte. „Sie bedeuteten Entwurzelung und Rettung zugleich. Die Figurengruppe, die allein durch private Initiative realisiert wurde, wird sich als Mahn- und Denkmal gut in die Hamburger Erinnerungskultur einfügen“, sagte Scholz.
Zu den Zeitzeugen, die eigens angereist waren, gehörte auch die 93 Jahre alte Miriam Gilles-Carlebach, Tochter des Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach. In einer bewegenden Rede hob die israelische Soziologieprofessorin das humanitäre Engagement der Retter hervor und berichtete, dass zwei ihrer Geschwister nur dank der Kindertransporte überleben konnte.
Stunde Null für Hamburg
Auch die 91 Jahre alte Esther Bauer, die aus New York gekommen war, ergriff das Wort. Dabei gehört die gebürtige Eppendorferin nicht zu den Kindern, die mit den Zügen nach England flüchten konnten. „Mein Vater war Leiter der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße. Er hat 1939 zwei der Kindertransporte nach England begleitet, mich aber nicht mitgenommen. ‘Du würdest einem anderen Kind den Platz wegnehmen’, hat er mir zu Begründung gesagt, was mich aber nicht wunderte, denn er war zu mir meistens streng“, sagte Esther Bauer. So musste sie Abschied von Freunden nehmen, die gerettet wurden, kam aber selbst mit ihren Eltern nach Theresienstadt, wo der Vater schon bald starb. Später deportierte die SS sie nach Auschwitz. „Wir wussten schon, was Auschwitz bedeutet und hatten mit dem Leben bereits abgeschlossen“, sagte die alte Dame und erzählte, wie sie und ihre Leidensgenossen zum Duschen geschickt wurden: „Aber da kam kein Gas, sondern Wasser aus den Brausen.“ Da sie kräftig war, taugte sie zum Arbeiten und kam schließlich nach Mauthausen, wo sie von den Amerikanern befreit wurde.
Sie und weitere Zeitzeugen hatten ihre Überlebensgeschichten auch Schülern der Joseph-Carlebach-Schule erzählt, die sich in besonderer Weise an der Einweihung des Denkmals beteiligten: Die Schüler trugen Passagen aus Briefen der geretteten jüdischen Kinder vor und gestalteten das „Verhüllungstuch“, das das Denkmal bis zur feierlichen Einweihung bedeckt hielt. „Das ist die Geburtsstunde der sieben neuen Hamburger“, sagte Lisa Sophie Bechner, die Kuratorin des Denkmalprojekts, bei der Enthüllung, und fügte hinzu: „Ich übergebe diese Kindergruppe in ihre Arme und Herzen.“