Am 3. Mai 1945 war der Krieg in Hamburg zu Ende. Die Aufarbeitung des NS-Terrors begann. Dietrich Kuhlbrodt ermittelte sieben Jahre.
Die Erinnerung ist immer stärker als das Vergessen. Im Morgengrauen des 16. August 1943 kamen die grauen Busse mit dem großen Stern auf dem Kühlergrill. Hektisch trieben Wachleute 228 behinderte Frauen und Mädchen vor das Tor der Alsterdorfer Anstalt. Die Zeit drängte an diesem warmen Montagmorgen, der Lazarettzug in Richtung Wien wartete am Hauptbahnhof. Die Scheiben des Busses waren verklebt, keiner der Behinderten mit den auf die Schulterblätter geklebten Leukoplast-Namensschildern sollte nach draußen schauen können.
Der Transport erreichte am nächsten Morgen sein Ziel, die Wiener Nervenheilanstalt Steinhof. Sofort schoren die Pfleger den Neuankömmlingen die Haare, steckten sie in Anstaltskleidung und wiesen ihnen Schlafplätze auf verfaulten Strohsäcken zu. Morgens und abends gab es eine Scheibe Brot, mittags Wassersuppe, ab und an quetschte ein Pfleger eine Pellkartoffel aus seiner Hand auf den Teller. Auf dem Steinhof wurde jeden Tag gestorben. Leiterwagen holten die in Packpapier eingewickelten Leichen ab. Nur 34 überlebten die Deportation. In Vernichtungsheimen wie dem Steinhof starben über 600 Bewohner der Alsterdorfer Anstalten. Sie verhungerten, starben durch Giftspritzen oder in Gaskammern.
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An einem sonnigen Frühjahrsmorgen öffnet Dr. Dietrich Kuhlbrodt, 82, die Tür seines Fachwerkhauses im Blankeneser Treppenviertel. Der Hausherr, blanker Schädel, dichter Schnurrbart, bunte Strickjacke, blitzwache Augen, entschuldigt sich für die Unordnung. Bis in die Nacht habe er mit einer Studentengruppe über die Nazi-Zeit geredet. Kuhlbrodt bittet in sein Esszimmer, die Regale voll mit Büchern, viele über das Dritte Reich. 25 Jahre hat er als Staatsanwalt gegen die braunen Täter und ihre Helfer ermittelt. Und kein NS-Verbrechen hat ihn dabei so beschäftigt wie der Alsterdorfer Massenmord.
Zum Kronzeugen seiner Anklage wurde ausgerechnet ein Mann, den sie in Alsterdorf 1940 als 14-Jährigen eingesperrt hatten. Albert Huth, Halbjude, laut Gutachten der Chefärztin ein schwachsinniger, schizophrener Psychopath, gerade gut genug zum Saubermachen der Klos. Huth schrubbte. Und schrieb. Minutiös notierte er auf der Fensterbank in seiner Kladde, wenn die Pfleger wieder einmal mit dem Vierkantschlüssel die Thermosicherung der Badewanne abschalteten, um Behinderte zu verbrühen. Er schrieb über seine entsetzlichen Schmerzen nach seiner Zwangssterilisation ohne Narkose. Vor allem protokollierte er penibel jeden Transport in die Vernichtungslager. „Wie die Schweine“ seien Männer, Frauen und Kinder in die Busse getrieben worden.
Nach dem Krieg schickte Huth seine Tagebücher, seine Briefe an die BBC, an die Kripo Hamburg, an den Alliierten Kontrollrat. Vergebens, die paar Nachfragen konterte die Anstaltsleitung mit dem Hinweis auf das „Geschreibsels eines Entmündigten“, das man doch, bitte schön, nicht ernst nehmen solle. 22 Jahre funktionierte die Alsterdorfer Abwehrtaktik nahezu perfekt. Bis die Papiere schließlich 1967 mehr zufällig auf dem Schreibtisch eines jungen Hamburger Staatsanwalts landeten: Dietrich Kuhlbrodt, Spezialgebiet Aufklärung von NS-Verbrechen.
„Ohne Huths Notizen wäre der Fall niemals ins Rollen gekommen“, sagt Kuhlbrodt heute und hebt in seinem Esszimmer mit verschmitztem Grinsen beide Finger: „Das schwöre ich.“ Amüsiert erzählt er dann vom weiteren Gang der Ermittlungen: „Ich habe telefonisch nach alten Akten gefragt. Wissen Sie denn nicht, dass hier im Krieg alles zerbombt wurde, kam als Antwort. Aber ich bin mit einem Kripobeamten einfach hingefahren.“
An den ersten Besuch in der Anstalt erinnert sich Kuhlbrodt, als wäre es gestern gewesen: „Der Verwaltungsmann hat mir wieder nur gesagt, dass alles verbrannt sei. Dann habe ich ihn gefragt, ob ich mal kurz in den Keller könnte, ich hatte ja gar keinen Durchsuchungsbefehl. In einem Schrank fand ich dann Hunderte von Karteikarten, alle aus der NS-Zeit. Die habe ich dann einfach mitgenommen.“
Es war der Tag, an dem die Mauern der Anstalt Risse bekamen. Und es war der Tag, der Kuhlbrodts Leben verändern sollte. Sieben Jahre ermittelte der Jurist gegen die Alsterdorfer Täter. Er wälzte Akten der Hamburger Gesundheitsbehörde, recherchierte wochenlang in NS-Deportationsheimen in Hessen, Bayern, Österreich und Polen. Er vernahm Zeugen über Giftspritzen, systematischen Hungermord und Tod in den Gaskammern der Nazis. Kuhlbrodt sprach mit Eltern, die die Anstaltsleitung in Briefen angefleht hatten, ihren behinderten Sohn zu verschonen und Monate später als Antwort nur einen Kostenbescheid für die Einäscherung erhielten. Akribisch protokollierte er die Aussagen von Eltern, die ihre Kinder zum Skelett abgemagert vorfanden und schließlich unter Tränen dem „Gnadentod“ durch die Giftspritze zustimmten.
Staatsanwalt Kuhlbrodt ließ sich nicht einschüchtern
Zwei Männer rücken von Beginn ins Zentrum der Kuhlbrodt-Ermittlungen: der damalige Anstaltschef Pastor Friedrich Karl Lensch und Kurt Struve, während der NS-Zeit Hamburgs stellvertretender Gesundheitssenator. Aus ihrer rechten Gesinnung hatten beide nie einen Hehl gemacht. Lensch trat schon 1933 der SA bei, befürwortete sowohl Zwangssterilisationen von Behinderten („Wir sind dem Führer manches Opfer schuldig“) und stimmte der Deportation der jüdischen Anstaltsbewohner eilfertig zu: „Wir können es uns selbstverständlich nicht leisten, dass wegen einzelner jüdischer Patienten unserer Anstalt der Zustand der Gemeinnützigkeit aberkannt wird.“ Während andere Anstaltsleiter in Deutschland teils unter Lebensgefahr versuchten, ihre Bewohner zu schützen, fand Lensch als Begleiter einer Deportation Trost darin, dass ein „kleines Dummerchen hinter mir ununterbrochen ,Jesu geh voran‘ sang“. Dies, so schrieb er, habe ihm gezeigt, dass sie „auch anderswo nicht von Gottes Liebe verlassen sind“.
Stunde Null für Hamburg
Mit dem hohen Beamten Kurt Struve, auch strammer Nazi, hatte Lensch den perfekten ideologischen Vollstreckungskollegen. Struve organisierte die Tötungstransporte ungemein effizient. Am 10. November 1941 vermerkte er auf einer Rechnung für den Transport Behinderter in ein Vernichtungsheim: „In Zukunft wollen wir Beförderungsangebote, auch wenn sie von der Kanzlei des Führers kommen, ablehnen. Wir machen es billiger.“
Als Kuhlbrodt diese beiden Sätze aus der Anklage in seinem Esszimmer empört zitiert, segelt eine Blüte aus dem Tulpenstrauß auf den Tisch. „Sehen Sie“, sagt er lakonisch, „das ist sogar für die Blumen zu hart.“
Was hat ihn angetrieben in all den Jahren? „Die Nazi-Generation war unser Feindbild“, sagt er. Gespeist aus den bitteren Erfahrungen der frühen 1960er, als er gleich zu Beginn seiner juristischen Karriere zur Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen nach Ludwigsburg abkommandiert wurde. Der Einsatz in einem ehemaligen Frauengefängnis wurde für ihn zum Albtraum. Als ein SS-Obersturmbannführer in der Nähe beerdigt wurde, zogen alte Kameraden vorbei und brüllten, die Fäuste geballt, den Nazi-Jägern zu: „Wir kriegen euch alle.“ Wachbeamte verkauften den jungen Staatsanwälten alte Knarren aus der Weimarer Republik und fuhren sie zu einem Schießstand: „Wir wunderten uns alle, warum die Wachleute im Wagen sitzen blieben, während wir auf die Zielwand ballerten. Ein paar Sekunden später stürzten Kinder herbei. Die Schießanlage war längst zum Abenteuerspielpatz umfunktioniert worden.“ Kuhlbrodt ist noch heute von einem abgekarteten Spiel der Polizisten überzeugt: „Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Kind getroffen. Dann wäre unsere Zeit in Ludwigsburg sofort vorbei gewesen.“
In Hamburg verlief die Einschüchterung deutlich subtiler. Eines Tages stand Wilhelm Drexelius, stellvertretender Bürgermeister, in seinem Büro: „Ich war völlig perplex, dachte, was will der denn bei so einem kleinen Beamten wie mir.“ Drexelius kam nach einem allgemeinen Lob („Ich beobachte Ihre Karriere schon lange, Sie sind auf einem guten Weg, und das soll auch so bleiben.“) schnell zur Sache. Der Angeklagte Struve sei doch ein verdienter Beamter. Und alles so lange her. Ob man da nicht was machen könne?
Kuhlbrodt lehnte höflich, aber bestimmt ab. Und schrieb weiter an seiner Anklageschrift. Gegen Lensch, inzwischen geschätzter Pastor der Christuskirche in Othmarschen. Und gegen Struve, der das Abzeichen mit dem Hakenkreuz gleich nach dem Krieg gegen das SPD-Parteibuch getauscht hatte und als leitender Regierungsdirektor schon wieder Karriere machte. Die Entnazifizierungen liefen im Wirtschaftswunderland so glatt wie ein paar Jahre zuvor die Deportationen in die Vernichtungslager. Anstaltsarzt Dr. Gerhard Kreyenberg, im Dritten Reich glühender Verfechter des NS-Rassenwahns, praktizierte als Allgemeinmediziner in Alsterdorf und schrieb Gutachten zu den Folgen der einst von ihm verordneten Zwangssterilisationen. Er war schließlich vom Fach. Den Antrag eines Opfers auf Entschädigung bügelte er mit diesen Sätzen ab: „Diese starken Schmerzen zur Zeit der Menses haben unendlich viele Frauen. Es ist kaum mit Sicherheit nachzuweisen, dass diese nun Folge des Sterilisationseingriffs sein sollen.“
Der Prozess fachte die Diskussion um die Verfolgung von NS-Tätern an
1973 vollendete Kuhlbrodt das Buch seines Lebens: Die Anklageschrift wegen Beihilfe zum vielfachen Mord umfasste 870 Seiten, gebunden in einem grauen Pappdeckel mit dem Aktenzeichen 147 Js 58/67. Die erste Niederlage kassierte der Staatsanwalt sofort, das Verfahren gegen Lensch wurde gar nicht erst eröffnet, die Beweise seien nicht ausreichend. Immerhin musste sich Struve vor dem Hamburger Schwurgericht verantworten. Der damals 72-Jährige kam in Begleitung seiner Ärzte, sackte auf der Anklagebank mehrmals mit Weinkrämpfen zusammen. Ein Neurologe erklärte, dass der Prozess ein „erhebliches Risiko“ bedeute, sein Patient sei „infarkt- und schlaganfallgefährdet“. Bereits am vierten Verhandlungstag wurde Struve für „verteidigungsunfähig“ erklärt. Der Prozess, angesetzt auf ein Dreivierteljahr und der Vernehmung von 234 Zeugen war vorbei, bevor er richtig begann.
„Natürlich war ich wahnsinnig wütend“, sagt Kuhlbrodt. Zumal er später über Umwege erfuhr, dass einer der Gutachter in Kriegszeiten Hausarzt von Struve war. Für einen Befangenheitsantrag war es zu spät, genau wie im Fall Lensch. „Dort hat der Richter, der sich mit dem Fall befasst hat, sich von Lensch in der Christuskirche trauen lassen.“ Hamburg sei damals eben ein Dorf gewesen, wo jeder jeden kannte, kleine Gefälligkeiten inklusive. Kuhlbrodt kniete sich nach der Niederlage in andere NS-Strafverfahren, schuldig gesprochen wurde keiner. Es sei dann auch mal gut mit dem „ganzen Nazikram“, beschied ihm schließlich sein Vorgesetzter. Bis zu seiner Pensionierung 1992 ermittelte Kuhlbrodt, dann doch befördert zum Oberstaatsanwalt, gegen Brandstifter und Münzfälscher. Lensch starb.
War also alles umsonst? „Nein“, sagt Kuhlbrodt. Seine Niederlage habe die Debatte um die mangelnde Verfolgung von NS-Tätern angefacht. Vor allem unter Historikern, denen er immer wieder hart an der Grenze zur Legalität Akteneinsicht gewährte: „Rückblickend war dies besser, als wenn die beiden ein paar Jahre im Knast gelandet wären.“
Kuhlbrodt kehrt regelmäßig an die einstigen Tatorte zurück, spricht in ehemaligen Tötungsanstalten über die Gräueltaten der Nazis gegen Behinderte. „Meine Sprache ist dann immer ganz klar. Ich zeige vom Podium auf das jetzige Stationszimmer und erzähle, wie dort im Dritten Reich die Kinder zu Tode gespritzt wurden.“ Dann, sagt er, würde es im Saal immer ganz still.
Ende