Hamburg. Erstmals nach 13 Jahren kündigt sich wieder ein Zuchterfolg in Hamburg an. Im Mai soll ein Weibchen ihre Jungtiere zur Welt bringen.

Eigentlich ist alles wie immer. Die Tiere fressen, die Tiere schlafen, die Tiere lassen sich nichts anmerken. Montags ist Hühnchentag, wie immer im Tigergehege. Aber Lailek mag kein Geflügel, er riecht nicht mal an der toten Legehenne, die heute auf dem Speiseplan steht. Wie so oft will der Tiger einfach nur liegen. Doch damit könnte es bald vorbei sein.

Maruschka wiederum mag Hühnchen. Ohne zu zögern schnappt sich das Weibchen den leblosen Geflügelkörper und genießt seinen Imbiss. Vielleicht zu sehr in letzter Zeit? Die Tigerdame hat in letzter Zeit ordentlich zugelegt, eine richtige, kleine Plauze ist ihr gewachsen. Und das hat nicht nur mit ihrem gesunden Hühnchenappetit zu tun, sondern auch damit, dass Lailek bald weniger liegen können wird. Das Tigerweibchen in Hagenbecks Tierpark ist trächtig. Selterner Nachwuchs kündigt sich an.

Seit dem vergangenen Jahr ruhten alle Zuchthoffnungen bei Hagenbeck auf den gestreiften Schultern des jungen Amurtigerpaars. Nun gehen Biologenträume in Erfüllung, der Tierpark erwartet erstmals nach 13 Jahren wieder Jungtiere bei den in freier Wildbahn stark gefährdeten Raubkatzen. Schon im Mai, nach einer Tragzeit von 95 bis 110 Tagen, soll das Weibchen werfen und für eine echte Rarität in deutschen Zoos sorgen. „Wir rechnen mit zwei bis drei Jungtieren“, sagt Tierarzt Michael Flügger. „Aber so genau weiß man das bei Katzen nie.“

Sibirische Tiger, auch Amurtiger genannt, zählen zu den stark gefährdeten Arten, nur noch 450 Tiere durchstreifen nach Angaben von Experten ihren natürlichen Lebensraum im Osten Russlands sowie die Grenzgebiete Chinas und Nordkoreas. Ihre Refugien sind stark dezimiert. Auch deshalb wird in europäischen Zoos an der Arterhaltung gearbeitet, etwa 260 Tiere leben momentan in Gefangenschaft, die Auflagen im Europäischen Erhaltungszuchtprogramm (EEP) sind streng. Erst im vergangenen Jahr erhielt der Tierpark die Zuchterlaubnis.

„Dass es jetzt so schnell geklappt hat, ist sehr erfreulich“, sagt Tierpfleger Tobias Taraba. Für ihn wäre es die erste Tigeraufzucht im Tierpark. „Die beiden waren von Anfang an ein Herz und eine Seele“, schwärmt er. Und wenn alles gut gehe, freue er sich darauf, die Kleinen groß werden zu sehen. Im Januar sei das Weibchen zuletzt rollig gewesen, daraus schließen die Tierpark-Experten, dass die Niederkunft unmittelbar bevorsteht. Nur zehn bis fünfzehn Würfe gelingen in Europa pro Jahr. Zuletzt konnte im dänischen Odense Nachwuchs beklatscht werden.

Sascha, der alte Tiger, war nicht mehr für die Zucht zugelassen

Für Hagenbeck ist die Tigerzucht eingedenk zurückliegender Widrigkeiten eine besondere Angelegenheit. Nach 13 Jahren sollen endlich wieder gesunde Babys geboren werden, mit denen europaweit weitergezüchtet werden kann. Im Jahr 2002 waren diese Bemühungen mit dem vorerst letzten Wurf gestoppt worden. Damals wurde die genetische Testmethodik des EEP verfeinert und der damalige Kater Sascha als nicht reinrassig aussortiert. Fortan durfte nicht mehr mit dem Paar Sascha und Taiga gezüchtet werden.

Die Suche nach einem geeigneten Nachfolgerpaar gestaltete sich in der Folge schwierig. Erst im vergangenen Jahr konnte die Fahndung nach einem Männchen in Zürich beendet werden. Artgenossin Maruschka, schon 2012 aus Novosibirsk nach Stellingen gekommen, wartete da bereits im umgebauten Gehege. Ihr Stammbaum war so wenig verbreitet, dass sie im europäischen Zuchtprogramm auf Anhieb an Ranglistenplatz sechs stand. Für Hagenbeck ein Glücksfall. Je weiter oben ein Tier steht, desto zügiger kann die Arbeit am Erhalt der Art beginnen.

Präpariert hat sich der Tierpark schon. Rund um die Uhr überwachen Kameras das mit Stroh bedeckte Séparée im Innengehege. Weibchen Maruschka verbringt dort bereits ihre Nächte. „In freier Wildbahn müssen sich die weiblichen Tiere auch ein Versteck suchen“, sagt Tierarzt Michael Flügger. Denn die Jungen der größten Raubkatze der Welt kommen ziemlich hilflos zur Welt. Fast nackt, taub und blind. „Im ersten Monat sind sie vollkommen auf die Mutter angewiesen.“ Deshalb wird sowohl die Geschlechtsbestimmung, als auch die öffentliche Präsentation bei Hagenbeck eine Weile dauern. Drei bis vier Wochen bleiben Mutter und Kinder im Innenbereich des Tigerreviers, erst danach sollen sie in das kleinere der beiden Außengehege umziehen.

Allerdings wird die Vorfreude auf Tigernachwuchs auch von einem gewissen Restrisiko überschattet. Gerade unerfahrene, junge Tiere wie Maruschka und Lailek, sagt Tierarzt Michael Flügger, neigen zu einem sogenannten Probewurf. Einen solchen überleben die Jungtiere in der Regel nicht. „Es würde uns in unseren Bemühungen aber nicht zurückwerfen“, so der Tierarzt. „Dann dürften wir noch mal.“ Mutter und Kinder sollen deshalb auch im Notfall nicht voneinander getrennt werden. Denn Handaufzuchten wären für eine mögliche spätere Auswilderung unbrauchbar.

Zwei bis drei Jahre wird der Nachwuchs in Hamburg zu sehen sein

Für den Tierpark ist die „Attraktion Tigernachwuchs“ nicht nur aus kommerziellen Gründen wichtig. Auch aus biologischer Sicht hat der Wurf seinen Wert. „Nach wie vor ist jedes gesunde Jungtier hilfreich bei der Erhaltung der Art“, sagt Michael Flügger. Dass Hamburg seinen Beitrag jetzt wieder leisten könne, sei auch aus Prestigegründen erwähnenswert. „So viel Tigernachwuchs gibt es in Zoos ja nun auch wieder nicht.“

Insgesamt seien sowohl Tierpfleger Tobias Taraba als auch Tierarzt sehr zufrieden mit der Entwicklung der Tiger. Der vier Jahre alte Lailek, eher der ruhige Part, habe sich schnell mit seiner Partnerin arrangiert. Nicht selbstverständlich für einen 200 Kilogramm schweren Einzelgänger. In der Wildnis beanspruchen Männchen ein bis zu 1000 Quadratkilometer großes Revier, das sich mit den Lebensräumen mehrerer Weibchen überlappt. Bei Hagenbeck müssen 600 Quadratmeter Außengelände und eine Tigerdame reichen. Gefahr für den Nachwuchs gehe von Lailek aber nicht aus. Nach einer Schonzeit soll sich die Familie sogar das Freigehege teilen.

Da Tiger in Gefangenschaft weniger Risiken eingehen müssen, um an Nahrung zu gelangen, können sie etwa 20 Jahre alt werden. Mehr als zwei bis drei Jahre werde der künftige Nachwuchs aber nicht in Hamburg bleiben können. Denn sollten die ersten Jungtiere nach 13 Jahren gesund zur Welt kommen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich andere europäische Zoos über frische, neue Tigergene freuen.