Etwa 20 Besucher sind Dauergäste im Tierpark in Stellingen. Warum? Ein Erklärungsversuch mit Sabine Kalsow. Laut Experten liegt der Hauptgrund für den Zoobesuch dabei nicht an den besonders schönen Gehegen.

Hamburg. Als Inge starb, brauchte Sabine Kalsow erst mal eine Pause. Inge hieß eigentlich Yellow, aber das wusste Sabine Kalsow noch nicht, als sie die Tierpatenschaft für den Pinguin bei Hagenbeck übernahm. Also nannte sie Yellow weiterhin Inge, obwohl Inge ein Männchen war.

Jedenfalls ist Inge, die eigentlich Yellow hieß, vor einem Jahr gestorben, und danach war Sabine Kalsow das erste Mal seit langer Zeit nicht im Tierpark. Davor besuchte sie den Humboldtpinguin, wann immer es ging. Und es ging ziemlich oft. „Ich habe meine ganze Freizeit bei Hagenbeck verbracht“, sagt sie. Sie gehört zu den Menschen, die jeden Tag im Tierpark sind.

Als Inge, die eigentlich Yellow hieß, noch lebte, hat Sabine Kalsow vormittags gearbeitet, nachmittags war sie bei den Pinguinen. Die 55-jährige Sekretärin sah ihrem Patentier bei der Partnersuche zu, begleitete es in der Beziehung, beobachtete es bei der Aufzucht der Jungen. Bruthöhle ausstatten, Fisch für den Nachwuchs hervorwürgen – immer wieder saß sie nur da und hat den Pinguin angesehen. „Zwei Stunden am Tag bestimmt.“ Dabei habe sich eine Freundschaft aufgebaut, die sie jeden Tag pflegen wollte. Sie habe mehr Zeit mit dem Vogel verbracht als die Reviertierpfleger.

Gut 11.000 Jahreskarten verkauft der Tierpark eigenen Angaben zufolge, Sabine Kalsow besitzt eine davon. 150 Euro kostet ihr Kombiticket, das auch den Eintritt ins Tropenaquarium ermöglicht. Wer jeden Tag zu Hagenbeck geht, hat die Kosten in einer Woche wieder drin. Und inzwischen ist die Niendorferin auch fast wieder jeden Tag da. „Ungefähr 15 bis 20 Leute“, so schätzt sie, kommen ebenfalls täglich in den Tierpark. Eine kleine, aber verlässliche Fangemeinde. Man trifft sich, man kennt sich. Jeder hat seine Lieblingstiere, fast alle haben Tierpatenschaften, da kommt man leicht ins Gespräch. Meistens reden sie dann gar nicht über Tiere. „Es sind auch unter uns richtige Freundschaften entstanden.“

Hauptgrund für den Zoobesuch, das hat der Soziologe Martin Tillich in seiner Diplomarbeit über die „Sozialitäten des Zoos“ herausgefunden, sind aber weder die Gesellschaft anderer Menschen noch besonders schöne Gehege. Bei Zoobesuchern sei „ausschließlich das Tier von Interesse.“ Den Gästen sei zwar bewusst, dass die Tiere eingesperrt sind, aber das werde meist ausgeblendet. Erst Recht bei Hagenbeck, der als erster Zoo auf Gitter bei der Tierpräsentation verzichtete.

Diese gefühlte Nähe wusste auch Sabine Kalsow zu schätzen. Zumal ihr Patenpinguin als Handaufzucht sehr zutraulich war. „Vielleicht habe ich ihn zu sehr vermenschlicht, ich weiß.“ Aber der taumelnde Gang, die entgegengebrachte Zuneigung – die Patin sah in ihrem Pinguin die Züge eines Haustiers – „von rüpelhaft bis traurig, von fröhlich bis ängstlich“. Yellow sei zum Freund der Familie geworden. „Wenn ich abends nach Hause kam, war die erste Frage meines Mannes: Und, wie geht es Yellow?“ Auch als sie schwer krank wurde, habe sie aus ihren täglichen Tierparkbesuchen Kraft geschöpft. „Während der Chemotherapie habe ich mir immer gesagt: Du schaffst das! Nächstes Jahr stehst du wieder hier.“

Sie begreife den Tierpark als tägliche Frischzellenkur. Ihre checkkartengroße Jahreskarte müsste sie gar nicht mehr vorzeigen. Am Einlass kennt man die blonde Frau schon. „Ich zeige sie aber trotzdem. Könnte ja komisch wirken, wenn ich einfach durchgewinkt werde“, sagt sie. Dass es für andere seltsam wirkt, jeden Tag in den Tierpark zu gehen, sei ihr bewusst. Aber sie fahre fast schon ritualisiert und sehr gern die Viertelstunde nach Stellingen: „Allein die Anlage mit dem alten Bewuchs ist toll. Es ist wie Urlaub, wenn ich durch den Eingang komme. Manchmal gehe ich einfach nur spazieren. Im Tierpark tanke ich auf.“

Dabei entdeckte sie ihre Faszination erst spät. Sabine Kalsow war schon Mitte 40, als sie sich ihre erste Jahreskarte kaufte. Ein Jahr später war sie schon Tierpatin, und von da an abhängig. Anfangs wollte sie nur wissen, wie es Inge aka Yellow ging, später habe sich daraus „mehr entwickelt“. Hinzu kamen die Bekanntschaften mit anderen Dauergästen. Es entstand eine Art Zoosucht, für die es keinen wissenschaftlichen Fachbegriff gibt.

An der Universität Hamburg, wo die Group for Society & Animals Studies (GSA) das Verhältnis der Gesellschaft zu Tieren untersucht, werden diese Zooeffekte betrachtet: Professorin Birgit Pfau-Effinger sagt: „Die Zoobetreiber versuchen, Tiere zunehmend in ihrer natürlichen Lebenswelt zu präsentieren.“ Dahinter stecke einerseits ökonomische Berechnung, weil mehr Besucher kämen. Andererseits würden sich immer mehr Menschen mit Tieren verbunden fühlen. „Sie wollen in Zoos das Gefühl haben, dass es den Tieren gut geht, dass sie sich wohlfühlen und nicht leiden.“ Mehr noch: „Die Besucher wollen die Tiere als Individuen näher kennenlernen.“ Deshalb kommen sie immer wieder, manchmal jeden Tag.

Sabine Kalsow nickt. Acht Jahre lang lernte sie ihren Patenpinguin kennen. Inzwischen weiß sie über alle 31 Humboldtpinguine Bescheid. Mit Tierpfleger Dave Nelde hat sie sogar Personalausweise für die Tiere angelegt. Mit Foto und Geburtsdatum. Weil sie die Vögel über Jahre hinweg beobachtet hat, ist sie inzwischen so etwas wie eine Pinguinexpertin. Weiß etwa, dass das schwule Pinguinpärchen Carlos und Juan erst neulich ein verstoßendes Jungtier aufgezogen hat. Oder, dass der Erstickungstod hinter jedem in das Gehege geworfenen Plastikteil lauert. „Inge habe ich mal einen Strohhalm aus dem Schnabel gezogen. In letzter Sekunde.“ Zudem sammelte sie schon Schnuller und anderen Plastikmüll aus dem Gehege. Sie schreckt auch nicht davor zurück, Besucher davon abzuhalten, in die Pinguinanlage zu steigen. Als Dauergast fühlt sie sich verantwortlich.

„Es ist schon erstaunlich“, sagte die Tierpatin. „Eigentlich hatte ich immer Angst vor Vögeln. Aber selbst das habe ich dank Yellow überwunden.“ Vielleicht hätten ihre täglichen Besuche auch therapeutische Wirkung. Bekannte fragten dennoch, warum sie sich nicht einen Hund anschaffe, statt jeden Tag zu Hagenbeck zu gehen. Sabine Kalsow zuckt mit den Schultern. Es wäre wohl nicht das Gleiche. Hagenbeck biete ihr Tag für Tag eine Art der Entspannung, die kein Hund ersetzen könnte. Es sei ein ganz besonderer Erholungswert: „Wenn ich hier bin, weiß ich: Ich hab Feierabend.“