Neuengamme. Nach dem Krieg erhielt der frühere Aufseher im KZ Neuengamme mehr staatliche Hilfen als sein Opfer. Was eine Historikerin herausfand.
Fritz Bringmann (1918-2011) wurde 1940 aus politischen Gründen in das Konzentrationslager Neuengamme gesperrt. Nur wenige Tage später kam der SS-Mann Walter Filsinger (1922-2010) in das Konzentrationslager, um dort als Aufseher bis 1943 Dienst zu tun. Ob sich die Männer jemals begegnet sind, ist unklar. Nach dem Krieg waren beide auf staatliche Unterstützung angewiesen. Bringmann litt an den Folgen von Misshandlungen durch die Nazis, Filsinger hatte im Fronteinsatz Verletzungen erlitten.
Die Historikerin und Politologin Dr. Christl Wickert (69), die von 2000 bis 2005 an der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mitwirkte, hat beider Bemühungen um Entschädigung respektive Kriegsopferversorgung anhand von Dokumenten detailliert nachvollzogen. Ihre Gegenüberstellung der zwei Einzelfälle zeigt exemplarisch die ungleiche Versorgung von Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes und Vollstreckern des Terrors nach 1945.
Walter Filsinger war zeitweise Block- und Kommandoführer im KZ Neuengamme
„Keine Gerechtigkeit – Die ungleiche Unterstützung des KZ-Überlebenden Fritz Bringmann und des SS-Mannes Walter Filsinger nach 1945“ heißt Wickerts Buch, das sich im Detail mit den Bemühungen der beiden Männer um Versorgung und ihrer ungleichen Behandlung befasst. Das 207 Seiten starke Buch ist soeben erschienen.
Die ungleiche Versorgung der beiden Männer sei skandalös, schreibt die Autorin. Sie sei „Folge von gesetzlichen Regelungen wie auch deren Auslegung durch Gerichte und Behörden“. Mit der Versorgung von Kriegsversehrten habe man damals bereits langjährige Erfahrungen gehabt, nicht aber mit Zahlungen an Verfolgte einer deutschen Diktatur.
Im Kaufhaus Hertie in Bergedorf als Verkäufer gearbeitet
„Das war damals Neuland für Verwaltung, Politik und den Gesetzgeber“, sagt Christl Wickert. Die Folge: Bringmann ging mit 65 Jahren in Rente – eingestuft als zu 60 Prozent Schwerbehinderter. Filsinger ging als 55-Jähriger in Rente – mit einem Schwerbehindertenstatus von 80 Prozent. Zuvor hatte er im Kaufhaus Hertie in Bergedorf als Verkäufer gearbeitet, „zuletzt als stellvertretender Leiter der Radio- und Fernsehabteilung“.
Bringmann musste 1939 das linke Auge amputiert werden. Die Augenverletzung war eine Folge von Misshandlungen in der Untersuchungshaft in Lübeck 1935. Er brauchte später alle zwei Jahre eine neue Augenprothese, musste die Kostenübernahme vor Gericht erklagen.
Fritz Bringmann als 15-Jähriger erstmals 1933 von den Nazis verhaftet
Bringmann wurde 1933 zum ersten Mal von den Nazis verhaftet, aufgrund seiner politischen Ansichten. Damals war er gerade einmal 15 Jahre jung. „Er war einer von acht Söhnen, die von den Nationalsozialisten alle ins Gefängnis gesteckt worden sind, ebenso auch der Vater.“
Filsinger war in Neuengamme zeitweise Block- und Kommandoführer. „Er hatte direkt mit den Häftlingen zu tun, begleitete sie etwa zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers“, sagt Christl Wickert und fügt hinzu: „Er war auch an Ermordungen beteiligt.“ Einige sollen von Sadismus geprägt gewesen sein. Auf diese Aussagen früherer Häftlinge stieß die Historikerin 2005. Ob Filsinger eigenmächtig über die Misshandlungen, die zum Tode von Häftlingen führten, entschieden habe, ist indes unklar. „Eigentlich war das einem Blockführer nicht erlaubt, aber viele von ihnen haben sich Freiheiten genommen.“
Walter Filsinger erlitt an der Front einen Lungensteckschuss
Filsingers Zeit als KZ-Aufseher endete, als er 1943 an die Front versetzt wurde. Dort erlitt er einen Lungensteckschuss, verbrachte den Rest des Krieges als Reha-Patient. „Auch in der Kriegsgefangenschaft befand er sich in Krankenpflege“, weiß die Autorin. „Als er 1948 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wird, wird er zunächst als zu 20 Prozent körperbehindert eingestuft.“
Laut Gesundheitsgutachten der Sozialbehörde hatten sich die gesundheitlichen Einschränkungen Filsingers, der nach der Kriegsgefangenschaft unweit des früheren KZ-Geländes in den Vierlanden lebte, im Laufe der Jahrzehnte verbessert, berichtet die Buchautorin. „Doch der frühere SS-Soldat hat immer wieder Gegen-Gutachten vorgelegt, die seinen vorherigen Zustand bestätigten oder gar seine Leiden noch weit schlimmer darstellten“, sagt Christl Wickert, die deshalb von „Gefälligkeitsgutachten“ spricht.
In der Hamburger und auch in der bundesdeutschen Justiz seien in den Jahrzehnten nach dem Krieg viele Menschen in verantwortlichen Positionen, darunter Richter und Polizisten, auf dem rechten Auge blind gewesen, betont die Historikerin.
Historikerin Christl Wickert recherchierte die Geschichte der Männer
Filsinger sei immerhin das Recht zugestanden worden, Gutachten vorzulegen, betont Christl Wickert. „Die Opfer des NS-Regimes konnten nur Widerspruch einlegen und mussten vor Gericht klagen, was wesentlich aufwendiger ist. Sie konnten nicht einfach auch ein Gesundheits-Gutachten vorlegen.“
Drei Jahre lang recherchierte und schrieb Christl Wickert an dem Buch. Die im Rheinland geborene und im Wendland (Niedersachsen) lebende freiberufliche Historikerin arbeitete Anfang der 2000er-Jahre in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, kuratierte dort Ausstellungen. Mit Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus beschäftigt sie sich bereits seit gut 30 Jahren. „Im Mittelpunkt meiner Arbeiten stehen dabei sowohl die Opfer als auch die Täter.“ Ihr erstes Fachbuch veröffentlichte sie im Alter von 25 Jahren, viele weitere folgten.
SS-Männer klagten gegen Aberkennung versorgungsrechtlicher Ansprüche
2005 beauftragte das Hamburger Sozialgericht sie mit einem Gutachten zu Filsingers Einsatz im KZ Neuengamme. Der ehemalige Soldat, der damals, über 80 Jahre alt, in Lohbrügge lebte, hatte eine Klage geführt, „weil ihm als SS-Mitglied wegen seines Einsatzes im KZ Neuengamme eine Zusatzrente, die er aufgrund einer Verletzung im Fronteinsatz nach dem Bundesversorgungsgesetz beanspruchte, aberkannt wurde“, berichtet Christl Wickert. Ihr Gutachten habe dazu beigetragen, dass Filsingers Widerspruch erfolglos blieb.
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Bundesweit seien die Klagen von nur 99 ehemaligen SS-Männern gegen die 1997 vom Bundestag erlassene Neuregelung zur Aberkennung der versorgungsrechtlichen Ansprüche bei einem begründeten Verdacht der Mitwirkung an NS-Verbrechen abgewiesen worden, weiß Christl Wickert – „im Gegensatz zu mehreren Tausend früheren SS-Männern, die mit ihren Widersprüchen durchkamen“. Hamburg sei das einzige Bundesland, in dem alle Widersprüche zurückgewiesen wurden, betont die Wissenschaftlerin.
Fast die Hälfte aller Inhaftierten überlebte den Naziterror nicht
Christl Wickert hat Filsinger nie persönlich kennengelernt. Mit Bringmann verband sie eine lange Freundschaft. Er ist einer von drei ehemaligen KZ-Häftlingen, denen sie ihre Publikation gewidmet hat. Nach Fritz Bringmann wurde vor sechs Jahren eine Straße in Fünfhausen benannt, der Fritz-Bringmann-Ring. Im KZ Neuengamme waren rund 100.000 Menschen gefangen. Etwa die Hälfte von ihnen überlebte den Naziterror nicht.
Das Buch aus der Reihe „Neuengammer Kolloquien“ (Band 9) ist im Metropol-Verlag erschienen. ISBN: 978-3-86331-676-1. Es kostet 20 Euro und ist überall im Fachhandel erhältlich. Für das E-Book werden 16 Euro verlangt.