Hamburg. Oliver Schulz ist ein ausgewiesener Kenner des Landes, das immer deutlicher Ansprüche auf eine Führungsrolle in der Welt erhebt.
Er liebt es bunt und laut: Oliver Schulz (55) ist am liebsten im quirligen Indien unterwegs und beobachtet die Menschen, deren Alltag „von Kultur und Religion durchdrungen ist“, so der Journalist, dessen neues Buch jetzt erschienen ist. Der Titel: „Neue Weltmacht Indien: Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor“ (Verlag Westend, 22 Euro).
Ein gutes Dutzend Mal bereiste Schulz, der in Lohbrügge lebt, bereits das Land. Immer wieder ließ er sich überraschen – so auch bei seinem dreimonatigen Fußmarsch auf dem 78. Längengrad von der Südspitze am Indischen Ozean bis hinauf in den Himalaya. Dabei hatte er Indien ursprünglich zufällig für sich entdeckt, wollte bei seiner ersten Tour 1989 eigentlich nach Ladakh, einer Region im Himalaya. „Aber da musste ich in Delhi umsteigen, und da bin ich irgendwie hängengeblieben. Ich mochte die friedliche Stimmung“, erzählt der 55-Jährige.
Lohbrügger veröffentlicht Buch über die „Neue Weltmacht Indien“
Anfangs sei er ein bisschen Hippie-mäßig unterwegs gewesen. Doch trotz des unnachgiebigen Kastensystems, aufdringlicher Bettler, viel Dreck und Elend kam er immer wieder und blieb einmal sogar ein ganzes Jahr. So lernte er, dass es zwischen Handkarren, Hühnern und Hindu-Tempeln sehr wohl schon selbstbewusste, gebildete Mütter gab „und rechtschaffene Bürger, die auf Kriminalität und Korruption schimpften“. Das politische Klima sei liberal gewesen – also ganz anders als jetzt, wo die Hindu-Hardliner regieren.
Seine Faszination für Indien währt bis heute: Schulz, der in Reinbek aufwuchs, als Redakteur bei den „Lübecker Nachrichten“ sowie als freier Journalist arbeitet, ist inzwischen ein studierter Indologe, dazu Tibetologe und Soziologe. Dass er das altindische Sanskrit lesen und Hindi sprechen kann, habe natürlich viel geholfen bei seinen Reportagereisen, die er im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ machte, dazu Texte an „Welt“ und „Spiegel“ verkaufte, an die „Financial Times Deutschland“, die „FAZ“ und auch das Abendblatt.
Oliver Schulz kritisiert Kuschelkurs gegenüber nationalistischen Politikern
Sie alle berichteten auch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der im Februar ins wirtschaftlich boomende Indien reiste. Kurz nach Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die im Dezember 2022 um die Gunst der Inder geworben hatte – in dem Wissen, dass sich der Staat nicht ausdrücklich gegen Russland positioniert: „Seit dem ersten Angriff auf die Ukraine wollen sich die Inder nicht dem Ölembargo anschließen. Denn Russland war lange strategischer Partner, der ihnen Waffen lieferte“, weiß Schulz und verweist auf die Historie: Jawaharlal Nehru, der mit der Unabhängigkeit 1947 Indiens erster Ministerpräsident und gleichzeitig Außenminister geworden war, prägte das Sozialismus-Konzept des Subkontinents.
Den Autoren ärgert ein offensichtlich großes Unwissen auf deutscher Seite. Denn spätestens mit der Wahl von Premierminister Narendra Modi im Mai 2014 ist der Hindu-Nationalismus erstarkt: „Das ist ein Mann mit völkischem Gedankengut, mit dem sich die Außenministerin an einen Tisch gesetzt hat.“ Sie nehme diese Strömung vielleicht nicht ernst genug, duze ihren indischen Amtskollegen, den Außenminister Subrahmanyam Jaishankar: „Mit dem AfD-Politiker Björn Höcke würde sie sich ja wohl nicht duzen wollen“, kritisiert der Indologe den Kuschelkurs: „In seiner BJP-Partei gibt es Nazis.“
Der religiöse Hass zwischen Hindus und Muslimen wächst
Die Lage sei alles andere als stabil: „Da werden Muslime von Bürgerwehren gejagt, weil sie Rindfleisch essen. Das ist ein herber Affront gegen ihre Kultur. Es sind auch schon Leute gelyncht worden“, berichtet Schulz und betont, dass (nach Indonesien) in Indien die zweitgrößte muslimische Gemeinschaft der Welt lebt.
Dass sich religiöser Hass inzwischen schon in Gesetzen wiederfindet, sei im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh verbrieft: „Da gibt es ein Gesetz gegen den sogenannten Love-Dschihad. Denn es heißt, die Muslime würden hinduistische Inderinnen in die Ehe locken, damit sie konvertieren“, erzürnt sich Oliver Schulz. Künftig muss ein Paar seine Liebe beweisen und eine Konvertierung 60 Tage vor der Hochzeit den kontrollierenden Behörden melden. Sollte der „Fall“ nicht auf Wohlwollen stoßen, drohen bis zu zehn Jahre Haft oder eine hohe Geldstrafe.
Experte warnt, fragwürdige Regierung mit Vorsicht zu genießen
„Man sollte diese fragwürdige Regierung mit Vorsicht genießen“, warnt Oliver Schulz, der sowohl die indisch-chinesischen Scharmützel im Norden verfolgt, wo die koloniale Grenzziehung nicht anerkannt wird, als auch die alltägliche Gewalt gegen Kastenlose im ganzen Land. Premier Modi sei kein „weiser, indischer Guru“, der freundlich an Mahatma Gandhi erinnern könnte, sagt Schulz: „Er war schon 2002 maßgeblich für die Pogrome in Gujarat verantwortlich, als bei interreligiösen Ausschreitungen mehr als 1000 Menschen zu Tode kamen, die meisten waren Muslime.“
Auch als rau, rückständig und frauenfeindlich erlebte er das Land, das seit vier Jahrzehnten eine Atommacht ist. Ein Land der Gegensätze, in dem „Arme in der Gosse liegen, während die Reichen von livrierten Bediensteten umsorgt und chauffiert werden“, beobachtete der Journalist, der Polizeichefs und Dorfälteste interviewte, mit Maoisten plauderte und südindische Gefängnisse von innen sah. „All das war begleitet von herzlicher Gastfreundschaft, während heute niemand mehr offen sprechen will, schon gar nicht angstfrei ein Statement zu Modi abgeben möchte.“
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Aber Oliver Schulz warnt nicht nur die europäische Politik, sondern auch finanzstarke Investoren, die das enorme Wachstum in den 90er-Jahren verfolgt haben, vor allzu großer Euphorie: „Man trifft auf weit mehr Bürokratie und Reglements als in China. Zwar ist Indien ein Land mit einem Riesenpotenzial. Wer hier wirtschaftlich oder geostrategisch auf Gewinn hofft, muss aber auch einen langsamen Prozess abwarten können“, sagt Schulz.
Seine Schlussfolgerung: Für die europäische Außenpolitik bleibe Indien ein wichtiger, aber sehr eigenwilliger Partner, der sich keiner Nation anbiedere, so Schulz: „Die Inder machen ihr eigenes Ding und bleiben selbstbewusst. Aber auch ein gesellschaftliches Pulverfass.“