Hamburg. Seit 2018 ist Neuallermöher Johan Graßhoff Fußball-Nationaltrainer eines besonderen Teams. Turnier ist nicht einzige Herausforderung.
Er muss sie nicht nur gut ein- und aufstellen. Nicht nur hochmotiviert auf den Fußballplatz bringen, sondern gleichsam fit für ein neues, geordnetes Leben machen. Männer jeglichen Alters, die schon mal im Knast saßen, alkohol- und/oder drogensüchtig waren, vielleicht aus einem fernen Land geflohen sind. Eines eint die Charaktere, die Johan Graßhoff in seiner Funktion als Bundestrainer beruft: Sie leben auf der Straße. Grundvoraussetzung für die Teilnahme an der Obdachlosen-WM 2024 im südkoreanischen Seoul (21. bis 28. September), zu der Coach Graßhoff demnächst mit seinen Straßen-Fußballern aufbrechen wird.
Johan Graßhoff ist offenkundig jemand, der sich viel ans (Fußballer)-Bein bindet: Der 36-Jährige arbeitet in der Hauptsache als Straßensozialarbeiter mit dem Schwerpunkt Obdachlosigkeit, sitzt für die Links-Partei in Bergedorfs neuer Bezirksversammlung, leitet den Sozialausschuss, sitzt im Quartiersbeirat seiner Wahlheimat Neuallermöhe, hat eine Dozententätigkeit im Rauhen Haus zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit, ist Vater eines sieben Monate alten Babys und natürlich Fußball-Fan. Klar, dass er auch mal selbst gegen den Ball beim Walddörfer SV und SC Sperber trat. Seit 2007 existiert der Verein „Anstoß e.V.“ (Bundesvereinigung für soziale Integration durch Sport), der federführend und organisatorisch in Sachen deutscher Straßen-Fußball ist. Den Cheftrainer-Posten besetzt Graßhoff seit 2018 und gehört ebenso lang dem geschäftsführenden Vorstand von Anstoß an.
Fußball-WM: Obdachlose kicken als deutsche Nationalmannschaft in Südkorea
Wie stößt der Mann auf seine Nationalspieler, mit denen er in der WM-Vorbereitung sogar ins Trainingslager geht? Das sei neben der Betreuung und dem Training eine seiner Hauptaufgaben. „Gescoutet“ werde bei den Deutschen Meisterschaften und regionalen Turnieren für Fußball-Obdachlose, wo zahlreiche Hobby-Kicker aus allen Teilen Deutschlands zusammenkommen, wo sich viele Einrichtungen und Netzwerke der Obdachlosen-Hilfe treffen. Im Vorjahr wurde die DM mit etwa 15 bis 20 Teams an sehr prominentem Ort gespielt, zu dem Coach Graßhoff keine weite Anreise hatte – gekickt wurde vor dem Millerntor-Stadion des Fußball-Bundesligisten FC St. Pauli.
Dass der Homeless World Cup durchaus eine gewisse Wertigkeit besitzt, zeigt sich daran, dass es beim jährlichen Großturnier stets rund um die Welt geht – 2023 war das US-amerikanische Sacramento Gastgeber, jetzt Seoul auf dem Gelände der Hanyang Universität, im kommenden Jahr geht es dann in die norwegische Hauptstadt Oslo. Ein anspruchsvolles Turnier mit bis zu 60 Mannschaften inklusive Gruppenspielen, Zwischenrunde und Platzierungsmatches, das auch über Livestreams im Netz zu sehen ist (alle Infos auf homelessworldcup.org). Kürzlich ist auch der große Weltverband Fifa in unterstützender Funktion eingestiegen.
Nationalcoach nahm auch schon mal 60-Jährigen mit
Graßhoffs größte Aufgabe ist, von Jahr zu Jahr eine ganz neue Mannschaft zusammenzustellen. Sein aktueller Kader besteht aus acht jüngeren Männern aus Nürnberg, Augsburg, Bremen, Hannover, Berlin, dem ostfriesischen Leer und natürlich Hamburg. Die diesjährige Equipe bringt auch tragische Einzelschicksale mit, zerrüttete Familienverhältnisse, Alkoholsucht und dergleichen. „Wir schicken jedes Jahr eine Nationalmannschaft“, kann Johan Graßhoff stolz sagen, „jeder Spieler darf grundsätzlich an so einer WM nur einmal in seinem Leben teilnehmen.“ Er nominierte auch schon mal einen 60-Jährigen, was zeigt, dass bei dem Turnier nicht die sportliche Leistung im Vordergrund steht, sondern es eher um soziale Komponenten geht.
Dabei werden die Spieler für zehn Tage in der Universität oder in Hotels untergebracht. Während die Reisekosten von Anstoß e.V. übernommen werden, nimmt sich der Veranstalter vor Ort sämtlicher Anliegen und Kosten an. Eine grundsätzlich für Graßhoffs Männer ungewohnte Situation: Strukturierte Tage mit festen Essens-, Trainings- und Wettkampfzeiten. Nachts im eigenen Bett schlafen. „Jeder“, weiß der Bundestrainer„hat andere Bewältigungsstrategien, damit umzugehen. Die Einhaltung einer Tagesstruktur ist für einige nicht einfach.“ Damit der Cheftrainer nicht die alleinige Verantwortung hierfür übernehmen muss, kommt auch ein Teammanager mit nach Südkorea.
Bewältigungsstrategien und spielerische Lösungen auf dem Platz
Das, was am Ende auf menschlicher Ebene dabei herausspringen kann, ist unbezahlbar: Viele ehemalige Obdachlosen-WM-Spieler seien mit neuem Selbstbewusstsein nach Deutschland zurückgekehrt, berichtet Johan Graßhoff, „sie leben jetzt ein neues Leben, die WM-Teilnahme war ein Auslöser“. Das sei auch durch wissenschaftliche Studien belegbar. Demnach klappte es für viele einst auf der Straße Lebende mit einem neuen Ausbildungsplatz oder Job, der Gründung einer neuer oder der Rückkehr zur eigentlichen Familie, dem Einzug in die eigene Wohnung. Wichtiger als der Triumph bei der WM für Straßenfußballer – den machen gern die Teams aus Südamerika unter sich aus.
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Zehn Tage insgesamt sind Johan Graßhoff und seine deutsche Mannschaft in der südkoreanischen Metropole. Die sportliche Herausforderung sind zwei bis drei Spiele täglich im Format 4 gegen 4, eine Partie dauert 2x7 Minuten. Das Spiel auf Kleinfeld ist mehr eine Mischung aus Fußball, Handball und Eishockey. Besondere Eigenheiten: Der Torraum darf weder von angreifender noch verteidigender Mannschaft betreten werden, ansonsten droht ein Penalty, also das direkte Duell Stürmer gegen Torhüter. Letztgenannter darf wiederum seinen Torraum nicht verlassen. Die angreifende Mannschaft hat übrigens in der gegnerischen Hälfte immer eine 3:2-Überzahl, damit auch spielerisch schwächere Teams zum Torerfolg kommen.
Kaderkonturen für WM 2025 schon im Oktober diesen Jahres
Graßhoff weiß jetzt schon: „Ausgeruht kommst du von so einem Turnier nicht wieder.“ Dennoch denkt der 36-Jährige nicht ans Kürzertreten: Die nächste Obdachlosen-DM steigt im Oktober in Freiburg. Dann wird Graßhoff trotz vollem Terminkalenders wieder genau hinschauen und mit Kollegen sprechen, wer es denn drauf haben könnte, zum Homeless WC 2025 mitzufahren.