Hamburg. Ein Tempel „für die großen Opern von Händel und Hasse“: Der berühmte Musikkritiker Ferdinand Pfohl und sein kühner Plan der 20er-Jahre.

Er nennt seinen Wohnsitz „Verbergedorf“, sieht in der aufstrebenden Stadt vor den Toren Hamburgs aber das Potenzial, zu einem Festspielort wie Bayreuth zu werden: Als Ferdinand Pfohl 1902 dem Trubel der Hansestadt ins per Eisenbahn gut angebundene Bergedorf entflieht, siedelt sich hier der wohl wichtigste Musikkritiker seiner Zeit an. Und der sah in der kleinen Stadt sogar das Potenzial, mit einem gigantischen Festspielhaus zum Bayreuth des Nordens zu werden.

In der Bergedorfer Gesellschaft sollte der Zugezogene kein Unbekannter bleiben, wie unsere Zeitung unter anderem nach seinem Vortrag über das Deutsche Requiem von Johannes Brahms im November 1913 schreibt: „Der begeisterte Verehrer und scharfsinnige Deuter“ habe den Zuhörern die Musik wie immer durch „sachliche Gründlichkeit ohne schauspielerische Stimmungsmache“ nahegebracht. Mehr noch: „Zudem hätte er es verstanden, ‚die Schönheiten der Brahms‘schen Musik (aus dem Flügel) liebevoll herauszuholen‘“, wie Musikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Hochstein jetzt in seinem Manuskript für einen Vortag im September bei der Altonaer Woyrsch-Gesellschaft über Friedrich Pfohl schreibt. Der Kritiker setzte sich nämlich auch selbst ans Klavier.

Als Bergedorf mit einem Festspielhaus zum Bayreuth des Nordens werden sollte

Dass Hochstein (74), emeritierter Professor der Hamburger Hochschule für Musik und Theater sowie seit über 30 Jahren Vorsitzender der Bergedorfer Hasse-Gesellschaft, mal nicht zur Musik, sondern über eine Person der Zeitgeschichte forscht, ist ungewöhnlich. Aber die Bitte eines ehemaligen Doktoranden, der jetzt die Feier zum 30. Geburtstag der Woyrsch-Gesellschaft (20./21. September, Lichtwarksaal, Komponistenviertel in der Hamburger Neustadt) organisiert, konnte er nicht ausschlagen. „Und diese Arbeit hat mir einen ganz neuen Blick auf das Bergedorf des 20. Jahrhunderts sowie nicht zuletzt mir völlig unbekannte Archivbestände der Hasse-Gesellschaft eröffnet.“

Wie das Festspielhaus in Bayreuth war in den 20er-Jahren auch Bergedorfs Musiktempel geplant. Er sollte auf dem Frascatiplatz errichtet und nach Händel und Hasse benannt werden.
Wie das Festspielhaus in Bayreuth war in den 20er-Jahren auch Bergedorfs Musiktempel geplant. Er sollte auf dem Frascatiplatz errichtet und nach Händel und Hasse benannt werden. © picture-alliance / dpa | Stefan_Kiefer

Neben Ferdinand Pfohl (1862-1949) selbst und natürlich der 1910 gegründeten Hasse-Gesellschaft, ist damit vor allem Bergedorfs größtes Kulturprojekt aller Zeiten gemeint: der Bau des wichtigsten Musikpalastes in Deutschland, einem tempelähnlichen Bau. „Ein Festspielhaus, das allen Anforderungen gerecht wird, die man an eine vollendete Aufführung einer Händel- oder Hasse-Oper stellen muss“, wie Pfohl als Ehrenvorsitzender des Planungsausschusses im Mai 1926 in einem Spendenaufruf für das Händel-Hasse-Festspielhaus an alle Musikbegeisterten, in Deutschland schreibt.

Namhafte Unterstützer sind dabei, doch Preußen stoppt Werbung

Doch auch wenn das Projekt schnell namhafte Unterstützer wie die Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Karl Muck oder Hamburgs Bürgermeister Carl Petersen findet, so kommen die errechneten 800.000 Reichsmark in den wirtschaftlichen Turbulenzen der Weimarer Republik schließlich doch nicht zusammen. Ein Grund ist, dass der Spendenaufruf in Preußen untersagt wird, weil das Projekt im ungeliebten Hamburger Landgebiet bloß „regionale Bedeutung“ hätte.

Der Musikkritiker Ferdinand Pfohl im Alter von 84 Jahren.
Der Musikkritiker Ferdinand Pfohl im Alter von 84 Jahren. © Hasse-Gesellschaft | Archiv Hasse-Gesellschaft

Es folgt ein Aufschrei des Bergedorfer Ausschusses um Ferdinand Pfohl und seiner prominenten Förderer. „Schließlich hatte es auch Wagner geschafft, auf ähnlichem Weg sein Bayreuther Festspielhaus zu realisieren!“, ergänzt Prof. Hochstein in seinem Vortrag, der zu großen Teilen auf der Auswertung von Artikeln der Bergedorfer Zeitung über Ferdinand Pfohl basiert – sowohl über sein Wirken zu Lebzeiten als auch in Nachrufen und Würdigungen.

„Die Vielfalt des Programms und die Qualität der Musiker beeindrucken mich bis heute“

„Es ist faszinierend, welchen Stellenwert klassische Musik in der Bergedorfer Gesellschaft hatte“, fasst Hochstein zusammen. „Wie die Zeitung und das Archiv der Hasse-Gesellschaft belegen, gaben sich hier fast alle Musikgrößen jener Zeit vor stets ausverkauftem Haus in der viel zu kleinen Hasse-Aula ein Stelldichein.“ Und in den gut 140 Konzerten, die allein zwischen 1910 und 1933 dokumentiert sind, wurden längst nicht nur Werke des 1699 in Bergedorf geborenen Johann Adolf Hasse oder von Johannes Brahms gespielt, der hier als junger Mann Klavier spielte. Auch geht es weit über Georg Friedrich Händel hinaus, dessen Werk vom Bergedorfer Musikgelehrten Friedrich Chrysander neu entdeckt wurde. „Diese Vielfalt des Programms und die Qualität der Musiker beeindrucken mich bis heute“, gibt Hochstein zu.

Auch interessant

Alle diese Details arbeitet er anhand der beeindruckenden Persönlichkeit von Ferdinand Pfohl auf, der in Bergedorf am 16. Dezember 1949 gestorben ist. Zwei Monate zuvor blickt er in unserer Zeitung sehr persönlich und ausführlich auf ein Musikleben, das sich in Bergedorf über die Jahrzehnte „in schwellender Fülle zu voller Blüte“ entfaltet habe, nachdem es mit der 1910 gegründeten Hasse-Gesellschaft ihren „schöpferischen Urquell“ empfangen hätte.

Artikel der Bergedorfer Zeitung vom 11. Oktober 1949: der damalige bz-Chefredakteur im Gespräch mit Ferdinand Pfohl (r.).
Artikel der Bergedorfer Zeitung vom 11. Oktober 1949: der damalige bz-Chefredakteur im Gespräch mit Ferdinand Pfohl (r.). © bgz | Bergedorfer Zeitung

Pfohl erinnert an weit über Bergedorf hinaus strahlende Namen wie Carl Grau, den Gründer und ersten künstlerischen Leiter der Hasse-Gesellschaft, sowie Klavier-Professor Otto Stöterau, den Dirigenten Erwin Seebohm oder Ernst Gernot Klußmann, den Gründervater der Hamburger Musikhochschule. Sie alle hätten sich ihre ersten Sporen in Bergedorf verdient. Das galt 1949 übrigens auch für den später legendären Chorleiter Hellmut Wormsbächer (✝ 2020). Ihn hebt Friedrich Pfohl schon im Herbst 1949 als „einen der Begabtesten aus der jüngeren Generation“ hervor.