Hamburg. Lohbrügger HAW-Professor Dr. Ralf Reintjes beschreibt in seinem neuen Lehrbuch die Grundlagen der Epidemiologie von Cholera bis Corona.
Mancher mag sie längst vergessen haben, diese nervige Corona-Pandemie. Aber ganz langsam macht sich das Virus doch wieder bemerkbar, bleiben Freunde und Nachbarn manchmal „irgendwie schlapp“ daheim. Die Rhinoviren, verantwortliche für Schnupfen und Erkältung, machen zwar aktuell das Rennen. „Aber Covid steht auf Platz zwei und greift in der ganzen Bevölkerung wieder um sich“, meint Dr. Jürgen Duwe. Wobei der Leiter des Bergedorfer Gesundheitsamtes keine genauen Zahlen hat, „da sich die Leute ja nicht mehr so häufig testen“. Dennoch ahnt er, dass ein Mundschutz – zumindest bei großen Menschenansammlungen – noch immer ein guter Schutz ist: „Die Europameisterschaft mag ihren Anteil an der aktuellen Entwicklung haben.“
In der vergangenen Woche waren dem Nationalen Referenzzentrum (NRZ) zur Überwachung wichtiger Infektionserreger insgesamt 85 Proben eingereicht worden (die Woche zuvor waren es noch 108), von denen die Hälfte (51 Prozent) tatsächlich einen Virusnachweis erhielten: Darunter waren 20 Rhinoviren und 18 Sars-CoV-2-Viren. So meldet es das Robert-Koch-Institut (RKI): „In der Bevölkerung hat sich der Anstieg der SARS-CoV-2-Aktivität seit Mitte Mai in der aktuellen Berichtswoche fortgesetzt. Die Zahl schwer verlaufender Atemwegsinfektionen bleibt insgesamt auf einem niedrigen Niveau.“ COVID-19 werde vorwiegend bei älteren Patienten diagnostiziert.
Robert-Koch-Institut bittet um Mithilfe
Aber die Datenlage ist eher mau, daher bittet das RKI in eigener Sache: „Trotz der Ferienzeit bitten wir alle an der virologischen Sentinelsurveillance beteiligten Praxen, weiterhin kontinuierlich Patientinnen und Patienten mit Symptomen einer akuten Atemwegsinfektion zu beproben, um Änderungen der ARE-Aktivität bezüglich der verursachenden viralen Erreger besser einschätzen zu können.“
ARE steht für akute Atemwegserkrankungen, die sich auch mit den Sommerferien häufen können. „Jetzt werden die Busse und Flieger wieder vollgepackt, gehen die Leute auf Konzerte und Festivals“, weiß auch der Lohbrügger HAW-Professor Dr. Ralf Reintjes. Er hat drei sehr anstrengende Jahre hinter sich, schließlich gibt es in Deutschland nur eine Handvoll Infektions-Epidemiologen, und noch weniger, die sich auf die Pandemiekontrolle spezialisiert haben. Deshalb war der Wissenschaftler sehr gefragt, nicht nur bei Interviews etwa mit BBC und CNN, sondern auch in internationalen Beratungsgremien, bei Telefonkonferenzen mit Ostasien und den USA.
Biontech passt neuen Impfstoff an
Der Mann, der „mindestens dreimal geimpft“ ist, hat selbst zweimal einen Coronavirus bekämpft – und ist dankbar: „Wir hatten ein riesiges Glück, dass sehr schnell ein Impfstoff gefunden wurde. Gerade die Tage hatte ich noch eine Videokonferenz mit Biontech, die ihren Impfstoff aktuell ganz neu anpassen. Spätestens Ende August soll er in den Praxen verfügbar sein.“ Schließlich empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) allen Menschen über 60 Jahren, ihre Impfung auffrischen zu lassen.
Der jetzige Coronavirus sei „viel infektiöser, aber nicht gefährlicher“, so der Wissenschaftler, der beobachtet, dass „eine neuerliche Welle seit drei bis vier Wochen hochgeht und damit saisonal viel früher dran ist als die Grippe“. Wenn beide auch von den Symptomen her kaum zu unterscheiden seien, so „müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass immer erst eine Corona- und dann eine Grippewelle zu erwarten ist“, sagt der 58-Jährige.
Zum Glück gebe es weltweit gerade keine Hotspots, sagt der Familienvater, der in den Ferien sowohl nach Paris als auch nach Japan reisen will. Unterdessen kann er etwas freier aufatmen. Denn anders als der Virologe Christian Drosten „beschäftige ich mich nicht mit der Ursache, sondern mit den Auswirkungen auf die Menschen. Und jetzt interessiere ich mich natürlich für eine gute Evaluation, damit wir den Zusammenhängen auf die Spur kommen und beim nächsten Mal das Chaos besser steuern können“.
Mehr Augenmaß bei der nächsten Pandemie
Im Rückblick etwa sei zu betrachten, was wirklich effektiv und was eher gefährlich war. Schlimm sei der Blick nach Großbritannien gewesen: „Da hatten die Berater Boris Johnson gerade den Unterschied zwischen absolutem und relativem Risiko erklärt, als er kurz später genau das Gegenteil behauptete. Da wurden die Engländer aufgefordert, in Restaurants zu gehen, um deren Wirtschaft anzukurbeln. Das hat sicher zigtausend Menschen das Leben gekostet“, kritisiert der Wissenschaftler. Und resümiert: Wenig hilfreich sei auch gewesen, dass die Nordseestrände vermieden werden sollten oder gar „totaler Quatsch, dass die Leute sich nicht frei in Parks bewegen sollten“. Da hätte er sich wiederum mehr Augenmaß gewünscht.
Aber man könne und müsse daraus lernen: „Solange die Pandemie noch beherrschbar ist, muss man die Leute gezielter, früher und konsequenter in Quarantäne schicken. Wenn es in einer zweiten Phase keine definierte Risikogruppe mehr gibt, müssen sofort die Kontakte reduziert werden, hilft das schnelle Impfen.“ Solche Methodiken beschreibt er nun auch in seinem neuen Buch über die Epidemiologie: „Da erkläre ich in einfachen Worten die Grundlagen von Cholera bis Corona, mit vielen praktischen Beispielen.“ Das Lehrbuch erschien mit 226 Seiten im Nomos-Verlag für 24 Euro.
Auch interessant
- Polizeikontrolle: Deshalb fallen Fahrzeuge in Bergedorf auf
- A1: Verkehr bei Norderelbbrücke staut sich auf fast 20 Kilometern
- Online-Umfrage unter Jugendlichen: Wie glücklich bist du?
Aktuell arbeitet Dr. Ralf Reintjes an einem internationalen Handbuch über die Kontrolle von Infektionskrankheiten. Denn er fürchtet die Vogelgrippe mit ihrer hohen Letalität (das bedeutet die Tödlichkeit einer Krankheit): „Ich fürchte, dass die Vogelgrippe in den nächsten Jahren so mutieren wird, dass sie auch für Menschen gefährlich wird.“ Und so wird es weiterhin seine Aufgabe sein, herauszufinden, welche Störfaktoren und welche Einflüsse sich auf ein Virus auswirken. Es werde nie eine Garantie geben oder ganz sichere Beweise, so Reintjes: „Aber es geht darum, eine Wahrscheinlichkeit besser einschätzen zu können.“