Hamburg. Sie wollen Menschen in Seenot retten, doch manchmal kommt auch Ingo Werth mit seiner Crew vom Rettungsschiff „Nadir“ zu spät.
Toleranz, Demokratie, Integration und Nachhaltigkeit: Es sind immer wieder dieselben Worte, die zu Wahlkampfzeiten, auf Plakaten stehen. Ohne politische Lösungen geht es nicht. Das weiß auch Ingo Werth aus Lohbrügge, doch „ich will einfach nur Menschen auf der Flucht helfen, überleben zu können“, sagt der 65-Jährige. Einfach mit den Schultern zu zucken, gilt nicht. Jetzt schon mal gar nicht: „Da kam eine riesige Welle von hinten auf das Ruderblatt. Bei dem heftigen Ruck am Steuerrad ist mir eine Sehne in der Schulter gerissen und musste operiert werden.“
So etwas tut weh. Aber er lächelt: „Wir haben 51 Menschen von einem kaum sieben Meter langen Holzboot gerettet“, sagt der Skipper der „Nadir“. Das auf Malta stationierte Segelschiff gehört dem vor sieben Jahren in Lohbrügge gegründeten Verein Resqship mit Sitz an der Osterrade. Es ist 18,50 Meter lang und kreuzt an 220 Tagen im Jahr auf dem Mittelmeer, betreut von einer ehrenamtlichen Crew.
Lohbrügger Verein Resqship: Seenotretter bergen viele Tote aus Mittelmeer
Dreimal im Jahr steht Ingo Werth am Steuer, die drei Juni-Wochen waren zuletzt besonders anstrengend. Nachts, etwa 50 Seemeilen (92,6 Kilometer) südwestlich der Insel Lampedusa: „Alles Nichtschwimmer, und das Boot hatte schwere Schlagseite“, erinnert er sich. „Bitte nicht springen!“, hieß es auf Französisch und Englisch. Ägypter, Syrer und Pakistani verstanden, aber gut die Hälfte stammte aus Bangladesch. Die „Nadir“ näherte sich dem Holzboot längsseitig, sodass die Crew alle Menschen vom oberen Deck ziehen konnten: „Alle gesund“, sagten sie dankbar.
Dann aber schauten die Retter durch die Luke nach unten: „Da schwamm literweise Benzin, also ging ich mit einer Gasmaske rein. Und erschrak, denn die Menschen lagen schon mit den Köpfen unter Wasser“, berichtet der Skipper. Zehn Tote. Die beiden dahinten auch? Ein Arzt und eine Krankenschwester wagten sich vor: „Sie atmen noch ganz schwach!“
Unter Deck muss sitzen, wer den Schleppern am wenigesten bezahlen kann
Doch eine Rettung aus dem Bauch des Bootes schien unmöglich, es ist der Platz, wo diejenigen hocken müssen, die den Schleppern am wenigsten Geld bieten können. „Also haben wir von außen mit Axt und Hammer Löcher reingeschlagen und zwei junge Männer herausgezogen. Gleich mit Sauerstoff und Injektionen am Tropf versorgt.“ Die Lebenden nahm ein Schnellboot der italienischen Küstenwache mit.
„Aber das Holzboot mit den zehn Leichen schleppten wir acht Stunden bis Lampedusa. Kurz vor der Küste zündeten wir zehn rote Lichter auf dem Deck an“, erzählt der Lohbrügger und war gerührt von dem Empfang. Ordenschwestern und ein Priester, Einwohner und Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen standen mit Blumen und Kerzen am Ufer.
Behörden versuchen, die Identität der verstorbenen Menschen herauszufinden
Tatsächlich werde versucht, die Identität der Menschen herauszufinden: „Sie werden erst gekühlt, dann in Särgen nach Sizilien gebracht, wo Fotos gemacht und DNA-Proben genommen werden. Polizei und eine Spezialgruppe der Küstenwache sagen dann den Angehörigen Bescheid, die sich über soziale Medien gemeldet haben“, weiß Ingo Werth.
Und die anderen, die von den tunesischen und libyschen Küstenwächtern abgefangen und zurückgeholt werden? „Die entführen die Küstenwachen in Camps oder setzen sie irgendwo in der Wüste aus, wo sie verhungern und verdursten. Und wenn sie überleben sollten, versuchen sie es Monate später mit denselben Schleppern erneut.“ Manchmal wagte er, nachzufragen und erfuhr, dass von Nigeria bis Italien 3000 Euro fällig wurden. Ab der libyschen Küste seien es bis zu 800 Euro.
Helfer sehen viele Verletzungen an den Flüchtlingen, die von Folter herrühren
Es geht schlichtweg um Macht und Geld. Davon berichten nicht nur die unfreiwillig schwangeren Frauen, sondern auch die vielen Verletzungen: „Da gibt es Striemen von Rohrstöcken und vom Auspeitschen, gebrochene Finger und Schussverletzungen. Lässt sich alles auf Youtube sehen, wenn man nach Folter in Libyen sucht“, erzählt der Skipper: „Da werden Verwandte angerufen und müssen Folterschreie hören. Sie sollen über Western Union innerhalb von 48 Stunden Geld schicken, sonst gebe es keinen Platz auf dem Boot.“
Libyen ist kein sicherer Ort. „Das betonen auch die Vereinten Nationen immer wieder. Wir fordern ein Ende der Zusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten mit der libyschen Küstenwache“, heißt es bei den Ärzten ohne Grenzen: „Kein Mensch sollte in ein Land gebracht werden, in dem ihm Misshandlungen und willkürliche Inhaftierung drohen.“
Resqship: Italienische Behörden behindern Seenotretter mit Auflagen
Neu ist für die Retter ein italienisches Dekret, nachdem sie nach jeder Rettung sofort einen Hafen anlaufen müssen. Manchmal aber sind erst 25 Menschen auf dem großen Schiff, das 500 aufnehmen könnte. So werden die zivilen Flotten ausgedünnt, denn die privaten Schiffe dürfen nicht den nächstgelegenen Hafen ansteuern: „Manchmal sollen die Ärzte ohne Grenzen die Leute erst in Neapel absetzen. Oder sie müssen 1600 Kilometer weiter in den Norden, bis nach Genua“, erklärt Ingo Werth, warum die Seenotretter tagelang unterwegs sind: Wertvolle Zeit also, während an anderer Stelle im Mittelmeer Menschen ertrinken.
„Die zentrale Mittelmeerroute ist eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt. Seit 2014 sind dort mehr als 25.000 Menschen ums Leben gekommen oder verschollen“, mahnt auch der Berliner Verein Sea-Watch. Auch ihm setzte die italienische Regierung zivile Seenotrettungsschiffe fest. Doch die Begründungen der Behörden seien falsch: Die Sea-Watch habe sich nicht den Anweisungen der libyschen Küstenwache widersetzt.
Sea-Watch kritisiert EU für Zusammenarbeit mit libyschen Akteuren
Sea-Watch glaubt an politisches Kalkül und listet namentlich Beamte der EU-Mitgliedstaaten und EU-Behörden auf. Der Vorwurf: „Schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit von Flüchtenden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und das mit Plan. Sie arbeiten eng mit libyschen Akteuren zusammen, fangen Flüchtende auf See ab und bringen sie illegal nach Libyen.“ Das alles passiere nicht anonym: „Diese Verbrechen werden an Schreibtischen von Menschen in Behörden der Europäischen Union geplant. Menschen mit Namen und Titeln, Zuständigkeiten und Befugnissen.“
Auch Ingo Werth möchte lieber flüchtende Menschen statt EU-Grenzen schützen. Und er muss seine eigene Crew im Blick haben, manche Erlebnisse sind schließlich heftig. Zum Glück aber werden die Ehrenamtlichen vom psychosozialen Dienst der katholischen Landeskirche in Bayern und der Berufsfeuerwehr begleitet. „Ich selbst habe keine schlaflosen Nächte. Aber ich bin wütend über die Situation“, sagt er und erinnert sich an Ostern 2023: „Da hatten wir 24 Ertrinkende zu beklagen. Und von den sechs tunesischen Fischerbooten drumherum hat niemand geholfen. 22 konnten wir lebend bergen, zwei nur noch tot.“
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Die 56 Mitglieder des Lohbrügger Vereins Resqship werden nicht sprachlos – im Gegenteil: Sie beobachten, dokumentieren und klären auf. Der nächste Info-Stand etwa wird beim Wutzrock-Festival in Allermöhe sein (9. bis 11. August). „Insgesamt haben wir 200 Mitarbeitende, aber jede helfende Hand ist willkommen“, sagt Ingo Werth und verweist auf die Hamburger Ortsgruppe, die sich an jedem ersten Montag um 19 Uhr im Willkommenskulturhaus trifft. Wer mag, kommt um 19 Uhr an die Bernadottestraße 7 in Ottensen. Und setzt sich für Menschen ein, die weder Toleranz noch Demokratie kennen, sich aber gern in Europa integrieren würden.