Hamburg. Amelie Herrmann ist eine Kämpferin und will leben. Wie die ersten Wochen mit dem schwer erstrittenen Ivosideneb verliefen.
Natürlich muss jemand, der mit Vornamen Amelie heißt, diesen Lieblingsfilm haben. „Die fabelhafte Welt der Amelie“ gefällt Amelie Greta Herrmann einfach am besten, wenn sie mit ihrer Mutter Andrea und Stiefvater Matthias Janssen einen gemütlichen Fernsehabend macht. „Ich bin einfach ein ganz großer Fantasy-Fan“, sagt die 21 Jahre alte Frau mit dem so offenen Lachen, die auch „Brücke nach Terabithia“ und sämtliche Harry-Potter-Verfilmungen liebt.
Wäre doch alles so fantastisch. Die Bergedorfer Familie würde womöglich am liebsten das Leiden ihrer Tochter hinfort zaubern, das diese seit neun Jahren peinigt. Amelie Herrmann musste sich dreimal wegen eines Gehirntumors operieren lassen, hat Krebserkrankungen seit dem zwölften Lebensjahr hinter sich gebracht. Ein Leben im Krankenzimmer, auf dem Operationstisch oder der MRT-Röhre anstelle diese Zeit mit Freundinnen und Familie zu verbringen.
Krankenkasse will Krebsmedikament für Tumorpatientin zunächst nicht bezahlen
Zu all den gesundheitlichen Problemen mussten sich Amelie und ihre Eltern bis vor Kurzem auch noch mit ihrer Krankenkasse, der Novitas BKK, herumärgern. Die Kasse wollte nach der dritten Gehirn-OP lange nicht das tumorhemmende Off-Label-Medikament Ivosideneb bezahlen, weil es zwar hierzulande zugelassen wäre, nicht aber für die Erkrankung der 21-Jährigen. Mittlerweile hat Novitas, nachdem die Familie den Fall öffentlich gemacht hat, eingelenkt und zahlt das Präparat nun erst mal für drei Monate.
Für eine Bewertung, ob das Mittel in Tablettenform auch hilft und das Tumorwachstum stoppt, ist es noch zu früh. Zumal der letzte MRT-Termin ausfallen musste. Wegen eines epileptischen Anfalls, den Amelie immer wieder mal erleidet. Es sei keine Regelmäßigkeit bei diesen extremen Krampfanfällen feststellbar. „Ich merke dann so ein Zucken am linken Auge, der linke Arm wird taub“, kennt die Betroffene die Warnsignale ihres Körpers.
Notspritze mit dem Wirkstoff Mucolan gehört zwingend in ihre Nähe
Ihr Zimmer ist mit Babyphone und einer Christkindl-Glocke ausgestattet, falls bei Amelie ein Notfall auftreten sollte. So wie neulich, als Matthias Janssen draußen gerade Rasen mähte. Seine Stieftochter rief schnell nach ihm, weil ein Anfall drohte. „Amelie lag total verkrampft auf dem Bett, ihre Lippen waren schon blau“, erinnert sich der 52-Jährige. Mittlerweile gehört die Notspritze mit dem Wirkstoff Mucolan zwingend in ihre Nähe, um die Anfälle abzuschwächen. Entweder von ihr selbst oder den Eltern wird sie in den Mund gesetzt.
Starke Kopfschmerzen und Erbrechen können die natürliche Fröhlichkeit der 21-Jährigen beeinträchtigen. Ohne Notfallmedikamente ist es Amelie Herrmann nicht möglich, das Elternhaus an der Heysestraße zu verlassen. Dies hindert sie jedoch nicht daran, es zu tun. Amelie versucht, ihr Leben zu leben.
Picknick auf der Schlosswiese – Tumorpatientin lässt sich nicht unterkriegen
Als sie im Alter zwischen 16 und 19 Jahren weitestgehend verschont blieb von Rückfällen, machte sie die Mittlere Reife an der GSB Bergedorf. Sie begann ihre Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, reiste, genoss die Weltmetropole London oder die Sonnenblumenfelder im italienischen Montemarciano, zeltete auch mal mit dem ersten festen Freund.
Auch nach der dritten Tumorerkrankung, dem extrem bösartigen Glioblastrom Grad 4, lässt sich die 21-Jährige nicht entmutigen und macht vieles von dem, was andere in ihrem Alter auch so tun – zum Beispiel mit der besten Freundin Zoe sich im Sachsentor verabreden, Bubble Tea trinken, in Geschäften stöbern. „Wir waren neulich auch mal picknicken auf der Schlosswiese.“ Und danach Fernsehabend mit „Mama und Vati“. Die fabelhafte Welt der Amelie eben.
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Warum sollte sie nicht auch wirklich eines Tages wieder fabelhaft werden? Ziele, vielleicht auch Träume genug gebe es. Amelie Herrmann fehlt die abgebrochene Ausbildung zur Erzieherin, die tägliche Arbeit mit Kindern. „Ich würde gern auch wieder mehr lesen“, sagt sie, „doch irgendwie fehlt mir die Motivation. Manchmal bin ich einfach eine faule Socke, komme nicht so recht aus dem Quark.“
Die Spruchtafel mit dem „Super Magic Power Girl“ steht im heimischen Wohnzimmer. Alle wissen, wer damit gemeint sein muss. Doch auch die größte Superheldin braucht mal eine Pause.
Kontakt zu einer Familie mit einem ähnlichen Schicksal hilft den Bergedorfern
Was der Bergedorfer Familie zuletzt Extra-Power verlieh, gerade im Clinch mit der Novitas BKK, war der Kontakt zu der Familie von Ramón Voigt. Die hat vor dem Tod des Sohnes (ebenfalls Gehirntumor) mit nur 34 Jahren einen ähnlich unsäglichen Kampf um die Bezahlung eines lebenswichtigen Medikaments mit ihrer Kasse ausgefochten. „Wir haben sofort gemerkt, dass untereinander eine Verbindung da ist“, beschreibt Andrea Janssen (50) den Trip ins Brandenburgische, „man hatte das Gefühl, man würde sich schon ewig kennen.“ Und gegenseitig Hoffnung geben.
Die Hoffnung besteht, dass Ivosideneb derart anschlägt, dass sich ihre Krankenkasse diskussionslos damit einverstanden erklärt, das Mittel weiterzuzahlen. „Es muss alles besser werden – und es wird besser werden“, sagt Amelie Herrmann.