Bergedorf. Eltern einer 21-Jährigen mit Hirntumor kämpfen lange Zeit vergeblich gegen Entscheidung einer Krankenkasse. Dann geschieht ein Wunder.
- Nach epileptischem Anfall an Heiligabend folgt der Tumor-Schock
- Off-Label-Medikament kann Amelie helfen und Tumorwachstum sogar stoppen
- Doch Krankenkasse lehnt zunächst ab
- Erst Vorstandsbeschwerde bewirkt Wunder
„Amelie will leben“ – so lautet der dramatische Appell der Gofundme-Kampagne für die erst 21 Jahre alte Bergedorferin Amelie Greta Herrmann, die eine kaum fassbare und leidensreiche Krankheitsgeschichte in jungen Jahren durchlebt hat. Mehrere Krebsarten, entsetzliche Tumore, zuletzt Noteingriffe, Strahlentherapien und Einschränkungen in Motorik und Koordination kennzeichnen den soeben erst begonnenen Lebensweg einer jungen Frau. Ihre Eltern, Andrea (50) und Matthias (52) Janßen, gerieten jedoch zuletzt an den Rand der Verzweiflung: Ihre Krankenkasse Novitas BKK wollte für Amelie ein lebensnotwendiges, zumindest Hoffnung gebendes Medikament nicht bezahlen, weil es zwar für Krebsbehandlungen an sich, nicht aber für Amelies Fall in Deutschland zugelassen ist. Doch am Freitagvormittag geschieht endlich die Wende.
Wer sich ihre Krankheitshistorie der vergangenen neun Jahre vor Augen führt, versteht, warum Amelies leibliche Mutter Andrea und Stiefvater Matthias so entsetzt, so macht- und fassungslos von der Weigerung ihrer Krankenkasse waren, ihnen in der größten Not zu helfen. Alles beginnt im Jahre 2015, als bei der damals zwölfjährigen Amelie Darmkrebs diagnostiziert wird. „Aufgrund eines Gendefekts“, wie Mutter Andrea Janssen berichtet. „Mismatch non repair“ heißt das im medizinischen Fachjargon und bedeutet in der bitteren Diagnose, dass die Jugendliche immer wieder Krebserkrankungen bekommen kann. Was dann auch zutrifft.
Schwerkranke Amelie: Tumor-Schock an Weihnachten unter dem Christbaum
2019 werden die Hiobsbotschaften immer bedrohlicher: Amelie muss der erste Hirntumor entfernt werden, was auch erfolgreich gelingt und mit einer Strahlentherapie fortgesetzt wird. Danach kehrt fast so etwas wie Normalität in das Leben der Jugendlichen ein: Tatsächlich macht sie an der Stadtteilschule Bergedorf (GSB) ihren Realschulabschluss und fängt eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin im Kindergarten an. Berufswunsch: Erzieherin.
Jahrelang kann Amelie Herrmann das tun, was sich jeder wünscht: leben. Bis Heiligabend 2022: Da erleidet sie im Beisein ihrer Liebsten einen epileptischen Anfall. Resultat eines neuen, in der Folge noch schmerzhafteren Hirntumors, der operativ entfernt wird. Im Dezember 2023 der nächste Rückfall: Der dritte Gehirntumor ist ein Glioblastrom Grad 4, die bösartigste Form der Gewebeentartung im Gehirn. „Unsere Tochter kann nicht mehr bestrahlt werden. Ausgerechnet bei dem schlimmsten Tumor, den man haben kann“, weiß Mutter Andrea. Zwar wird das Glioblastom am 6. März 2024 weitestgehend operativ entfernt werden, aber leider nicht vollständig. Auf den letzten MRT-Bildern vom 21. Mai wächst der Tumor bereits wieder.
Kann ein Off Label-Medikament das Tumorwachstum bremsen?
Amelie will leben. Optimismus, Kraft, Mut und Lachen gehören zu ihr. Für ihre Eltern ist sie sowieso das „Super-Power-Magic-Girl“, das sich schon neun Jahre vehement gegen die Krankheit stemmt. Doch ihr Körper ist gezeichnet nach all den Torturen: Ihre Ausbildung musste sie abbrechen, seit Dezember 2023 ist sie nur noch zu Hause, kann zurzeit nicht mehr so gut gehen, hören und auch im linken Sichtfeld nicht komplett sehen. Doch aufgeben ist keine Option, auch weil sich die Familie bei ihrem langjährigen Hamburger Onkologen Prof. Dr. Alexander Stein – er behandelt Amelie seit 2021 – sehr gut aufgehoben fühlt. Im vom Arzt am 21. März verschickten Eilantrag an die Krankenkasse Novitas BBK bittet Stein darum, Ivosideneb zu genehmigen. Das Off-Label-Medikament ist nicht wirklich günstig, kostet in dosierter Tablettenform zwischen 18.000 und 30.000 Euro.
Doch der Wunsch wird abgelehnt. Zweimal sogar, erst kürzlich am vergangenen Dienstag, 11. Juni. Begründung der Novitas: Das Präparat sei zwar zugelassen für andere Krebsbehandlungen, nicht aber für die Art, an der Amelie leidet. Diese Begründung entsetzt Familie Janßen – denn sie wissen es doch besser: Ihre Tochter gehört zu einer Studie des renommierten Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT). Und eine Fachkonferenz des NCT kam erst kürzlich zu der wissenschaftlich fundierten Meinung, dass Ivosideneb in Krankheitsfällen wie bei der 21-jährigen Bergedorferin das Tumorwachstum bremsen und sogar stoppen kann. Andrea Janßen sagt: „Die Krankenkasse trifft eine willkürliche Fehlentscheidung, obwohl es doch wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, dass der Tumor gestoppt werden kann. Meine Tochter hat früher schon Off-Label-Produkte zur Antikörperbildung bekommen, und es hat immer geholfen.“ Ein Patient mit einem wachsenden Glioblastom im Kopf hat nicht viel Zeit.
Nach Vorstandsbeschwerde: Novitas BBK lenkt ein
Amelie soll leben – das sehen viele Menschen genauso, die bei der Online-Kampagne mitwirken, die das Unverständnis über die Ablehnung der Krankenkasse teilen. Innerhalb weniger Tage sind 18.000 Euro beisammen, das Geld für eine erste Gabe von Ivosidineb-Tabletten da. Auf Dauer aber für den Hauni-Mitarbeiter und die Verwaltungsmitarbeiterin im Handwerkerbetrieb finanziell nicht leistbar. Und es braucht ja auch eine Zeit, bis die Behandlung anschlägt. Andrea Janßens Kritik ist eindeutig: „Wir wurden von der Novitas ziemlich hingehalten, bekamen nur auf persönliche Nachfrage Informationen. Das hat alles kostbare Zeit vergeudet.“
Auch unsere Redaktion fragte am Mittwoch erstmals bei der Novitas BKK nach – und schon am Freitagmorgen folgte die Wende: Nachdem die Janßens eine Vorstandsbeschwerde ebenfalls am Mittwoch formuliert hatten mit der Eingabe des Heidelberger Tumorboards, wendete sich das Blatt zugunsten der Patientin. „Das Protokoll aus Heidelberg brachte die entscheidenden neuen und wertvollen Zusatzinfos“, erklärt Pressesprecher Harald Stollmeier das Umdenken der Novitas BKK, „auf dieser Grundlage konnten wir eine Einzelfallentscheidung treffen.“ Zunächst für drei Monate bekommt Amelie das beantragte Medikament bezahlt. „Geld spielt in so einem Fall keine Rolle“, betont Stollmeier, „jetzt hoffen wir alle, dass es Amelie schnell besser geht.“
Eltern wollen nichts zur Lebenserwartung ihrer Tochter wissen
Offenbar orientierte sich die Kasse am Ende am sogenannten Nikolaus-Urteil zum Off-Label-Use in der Medizin vor dem Bundessozialgericht aus dem Jahr 2017. Das Urteil lieferte wichtige Voraussetzungen, wie eine solche Medikation „kassengerecht“ durchgewinkt werden kann: bei Lebensgefahr, bei Ausschöpfung aller regulären Behandlungsmethoden oder bei fundierter Vorlage von medizinischen Experten zu Erfolgsaussichten des Medikaments.
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Natürlich ist das eine tolle Nachricht für Amelie Herrmann, die temporäre Behandlung mit Ivosideneb ist ein Hoffnungsschimmer. Nicht mehr, auch nicht weniger. Stiefvater Matthias und Mutter Andrea waren nie daran interessiert, wie hoch die Lebenserwartung ihrer Kleinen von „Experten“ eingeschätzt wird. „Kein Mediziner hätte geglaubt, dass Amelie 18 Jahre alt wird“, strahlt Matthias Janßen Optimismus aus. Und das kann einer jungen Frau, die weiterleben möchte, doch nur helfen.