Hamburg. Eine wechselvolle politische Vita hat der Bundestags-Direktkandidaten der Linken im Wahlkreis Bergedorf-Harburg.

„Leben heißt kämpfen“, steht auf dem großen Poster mit dem Konterfei von Ché Guevara. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Buch über „Hygge“, die dänische Entspanntheit. „Ich hab’ noch nie den normalen Klischees entsprochen“, meint Stephan Jersch, der seit 2015 für die Linke in der Bürgerschaft sitzt – und das Wort „aufmüpfig“ mag. Opposition eben.

Zweiter Stock, Bille-Baugenossenschaft, Am Beckerkamp: In der hübschen Küche des Bundestags-Direktkandidaten der Linken im Wahlkreis Bergedorf-Harburg stapeln sich die Kochbücher („ich schnibbel gern“), im Kleiderschrank die Krawatten (immerhin vier in der Sammlung sind rot) und im Arbeitszimmer die Aktenordner. Die Sonntage verbringe er komplett am Schreibtisch, um für die Woche gut vorbereitet zu sein, sagt der 58-jährige Fachsprecher für Bezirke, Umwelt und Energie, Agrarwirtschaft, Tierschutz und Tourismus.

Zur Bundestagswahl 2021 eine Alternative anbieten

Blass ist er. Etwa lichtscheu? „Nö, ich bin halt nur selten draußen“, sagt er grinsend. Neben einer 25-Stunden-Woche als Systemanalyst bei Kühne & Nagel bleibe halt wenig Zeit für Freizeit: „Alexa, was sind meine Hobbys?“. Und als könnte man das Schulterzucken hören, antwortet die Maschine: „Da bin ich mir leider nicht sicher.“

Es war wohl schon immer die Politik, mit dem Wunsch, „etwas zu gestalten“. Auf dem Gymnasium im katholischen Mönchengladbach sagte einst der Geschichtslehrer: Die „Parteien arbeiten an der Willensbildung des Volkes mit.“ Das wollte Jersch auch – zunächst hin- und hergerissen zwischen dem linken Rand der „spießigen SPD“ und dem rechten Rand der DKP.

Stephan Jersch: BWL-Studium, Systemanalyst und Programmierer

Es sollte eine lange Suche werden: 1980 trat er in die SPD ein und besuchte noch im selben Jahr eine Sitzung der Grünen: „Da wurde zwar gut diskutiert, aber nichts beschlossen.“ 1982, mit dem Parteibuch der DKP, begann er in Saarbrücken ein Studium der Betriebswirtschaftslehre. Jetzt wurde im Studentenparlament diskutiert, beim marxistischen Studentenbund Spartakus und im AStA, wo er zwei Jahre Finanzreferent war , „hauptsächlich für die Getränkelieferung der Feste zuständig“. Das Studium brach er ab.

Von der SPD über die Grünen zur DKP, weiter zu PDS, WASG und die Linke

1989 ging es als Programmierer für Banken-Software nach Buxtehude. „Da haben wir die DKP abgewickelt und Kontakt zur PDS in Mecklenburg-Vorpommern gesucht.“ Sein Eintrittsantrag folgte im September 1990, sechs Jahre später kandidierte er für den Gemeinderat im 10.000-Seelen-Dorf Harsefeld: Die errungenen 2,49 Prozent beeindruckten wenig die durchaus starke NPD im niedersächsischen Nachbarort.

Plötzlich erklingt ohrenbetäubend die Marseillaise. Jersch springt ans Handy: Die taz will seine Meinung zur Solardachpflicht wissen. Bleibt also Zeit, um die gesammelten Werke von Marx und Engels im Regal zu entdecken, die sozialistische Tageszeitung „neues deutschland“ und eine Liste auf dem kleinen Bartresen, wo die tägliche Anzahl von Zigaretten und Cola-Rum eingetragen werden, auch eine Art von „Anwendungsentwicklung“.

Landespolitik ist „ein Haifischbecken“

1997 wechselte Stephan Jersch zur Hamburgischen Landesbank, als Projektleiter der Wertpapierabrechnung. Im selben Jahr zog er „der Liebe wegen“ nach Lohbrügge. „Hier habe ich erst bei Regenbogen mitgemacht und dann versucht, eine PDS-Gruppe aufzubauen. Letztlich haben wir dann alle in der WASG Politik gemacht“, erinnert er an die „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“.

Endlich fand Jersch seine politische Heimat, als 2007 der Bezirksverband der Linken in Bergedorf gegründet wurde, er ein Jahr später als Fraktionsvorsitzender in der Bezirksversammlung saß: „Damit war ich zufrieden, Landespolitik ist schließlich ein Haifischbecken.“ 2015 lockte doch die Bürgerschaft.

Initiative von Jersch zum Verbot von lebenden Tieren auf Wochenmärkten

Und jetzt eben Berlin, „wobei die Chancen gegen Metin Hakverdi realistisch nicht groß sind, aber man muss eine Alternative anbieten“, meint Jersch, dessen größtes Ziel es ist, bis 2035 die Klimaneutralität zu schaffen – bitte ohne sich so zu verbiegen wie die Grünen: „Die sind so kompromiss-leidensfähig“, meint der Oppositionelle, der zugleich die eigenen Mitstreiter mahnt, „mehr Verantwortung in der Regierung übernehmen zu wollen“.

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Dann könnte man sich die Erfolge auch direkt anheften, wie beim Verbot von lebenden Tieren auf den Wochenmärkten: „Der Antrag kam von mir, aber Rot-Grün hat ihn dann entschärft und durchgebracht.“ Es sei aber schon ein Erfolg, wenn man „eine Bewegungsrichtung“ initiieren kann: „Der klimaschädliche Einsatz von Sulfurylfluorid bei der Schädlingsbekämpfung im Hamburger Hafen wurde immerhin auf der Umweltministerkonferenz diskutiert“, freut er sich.

„Wir haben die Verpflichtung, Menschen in Not aufzunehmen“

Nicht immer gelinge eine Punktlandung. Politik fordere Kompromisse, meint der Single und denkt dabei an die Debatten um das Kohleheizkraftwerk Wedel: „Ich hätte mir gewünscht, dass es zumindest über den Sommer stillgelegt wird. Nun wird der Kohleeinsatz wenigstens reduziert.“

Unermüdlich fordert er, dass Umweltschutz „kein Anhängsel der Wirtschaftspolitik bleiben darf“ und dass Menschen in Not bei uns aufgenommen werden müssen, es zugleich eine gute Entwicklungspolitik in ihrer Heimat braucht. Und dass die Bezirke stärker und verbindlich einbezogen werden müssten. Mitbestimmung sei wichtig, Leben heißt eben kämpfen. Da klingelt wieder das Handy: Jetzt aber schnell zur Vorstandssitzung des Bergedorfer Museumsvereins!

  • Steckbrief Stephan Jersch

Liebste Reiseziele: Kreta, Skandinavien – „gern, wo niemand Deutsch redet“

Was mir wichtig ist: Wertschätzung und Freiräume

Was mir derzeit fehlt: unkomplizierte Reisefreiheit

Politische Motivation: Ich will verdammt was ändern, und dafür muss man auf die Straße

Was an der Politik nervt: Bemerkungen hinter dem Rücken, mangelnde Diskussionskultur, wenn alle recht haben wollen