Bergedorf/Hamburg. Geflüchtete Pazifisten demonstrieren dreimal in der Woche in Hamburg. Im Juli laden sie zu einem Kulturfest in Bergedorf ein.

Der Protest ist ein stiller: „Wir halten nur Plakate hoch und zeigen zerstörte Städte und unsere getöteten Kinder“, sagt Nataliia Perova. Gerade jetzt, zur Fußball-Europameisterschaft, stehen die Protestler vor dem Volksparkstadion, denn „seit Kriegsbeginn sind bei uns 5000 Leistungssportler gestorben“, so die 43-Jährige, die am 5. März 2022, also kurz nach Kriegsbeginn, mit ihrer Tochter aus Odessa nach Deutschland flüchtete.

Hier gründete sie die gemeinnützige Organisation Vilni-de-ua, die seither mehr als 300 Aktionen in Hamburg durchgeführt hat: Filmvorführungen, laute Protestmärsche und stille Gedenkproteste.

Trotz Angriff auf Ukrainerin: Der stille Protest geht weiter

„Noch vor zwei Jahren bekamen wir Kinder, bauten Karrieren auf und planten unsere Zukunft. Aber eines Nachts wurden wir von Explosionen geweckt“, sagt die Frau, die jetzt vom Frauen-Magazin Brigitte als „Frau des Jahres“ nominiert wurde: „1000 Leute haben sich beworben, nur fünf blieben übrig. Und ich hoffe, dass ich auf der Berliner Preisverleihung im September Geld gewinne, das ich für die Ukraine spenden kann.“

Nickend hört Anatoliy Kavun ihr beim Treffen am Sander Damm 41 zu. In der ehemaligen Spielhalle ist längst eine Spendenausgabe für Geflüchtete entstanden. Der 48-Jährige wohnt in Bergedorf und trainiert hier in einem Fitnessclub Kraftsport: „Es geht um Selbstverteidigung. Und darum, die Gegner entwaffnen zu können“, sagt er.

61-Jährige spricht von gezieltem Mordanschlag

Nur zu gut erinnert er sich an den 7. Juni, als etwa 200 Ukrainer auf einem Friedensmarsch vom Speersort bis zum Hauptbahnhof liefen, sich gegen 19.30 Uhr auf dem Heidi-Kabel-Platz im Halbkreis aufstellten und ihre Hymne sangen. Und dann passierte es.

„Er schrie irgendwas mit Ukraine, kam direkt auf mich zu, stach in meine Richtung, aber zweimal in die Luft, weil er von hinten weggezogen wurde“, erzählt Liubov Selenskaya aus Charkiw – und könnte heute noch ein wenig zittern bei dem Gedanken, dass sie wohl nur überlebte, „weil ich mich zur Seite gedreht habe“, glaubt die Frau, die denselben Nachnamen trägt wie der Präsident ihres Landes.

Die 61-Jährige ist überzeugt: „Das war ein gezielter Mordanschlag auf mich“, glaubt die Frau, die ein halbes Jahr lang in der Unterkunft an der Osterrade wohnte und in Bergedorf ihren ersten Deutsch-Kursus belegte.

„Ich habe geschrien, dass er ein Messer hat“

Zum Glück griff schleunigst die Polizei ein, nahm den Mann fest, brachte ihn weg und nahm die Personalien der Zeugen auf. Zu denen gehört auch Waldemar Kluch, der in Lohbrügge jahrelang das Dima-Sportcenter betrieben hatte: „Ich habe geschrien, dass der ein Messer hat. Erst später konnte ich erkennen, dass es ein Schraubendreher in seiner linken Hand war. Der wollte die Frau ganz einfach abstechen.“

Kluch, ein gebürtiger Kasache, hatte einst viele Kontakte nach Russland, als er Profi-Boxer in Deutschland aufbauen wollte. Heute indes fürchtet er die Putin-Fans.

Tatsächlich kam der Angreifer, ein 26-jähriger Deutscher, zunächst in eine psychiatrische Klinik, bestätigt ein Polizeisprecher: „Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines versuchten Körperverletzungsdeliktes wird, wie in solchen Zusammenhängen üblich, nun beim Staatsschutz des Landeskriminalamts (LKA 7) geführt.“

„Wir lassen uns nicht einschüchtern“, rufen unterdessen die pazifistischen Ukrainer bei ihren nächsten Aktionen, so etwa am Sonnabend, 22. Juni, auf dem Rathausmarkt. Auch am Mittwoch, 26. Juni, wollen sie vor dem Volksparkstadion sein, wenn Tschechien gegen die Türkei spielt.

Spenden werden in Warschau übergeben

„Deutschland hat noch nicht begriffen, dass Putin keine Grenzen kennt und am liebsten morgen gleich in Berlin oder London einmarschieren würde“, meint Nataliia Perova, die mit ihren 20 treuen Aktivisten auch schon am Bergedorfer Bahnhofsvorplatz protestierte: „Demnächst aber haben wir Ordner dabei und bitten um mehr Polizeipräsenz. Denn es gibt immer mehr aggressive Russen, die uns bepöbeln und provozieren wollen, wenn sie rufen, die Ukraine gehöre zu Russland.“

Zunächst aber soll es ein friedliches Fest geben: Zeitgleich mit dem Bergedorfer Stadtfest wollen die Ukrainer vom 12. bis 14. Juli ein Kulturfest am Sander Damm feiern, zwischen 15 und 20 Uhr ihre traditionellen Trachten zeigen und ukrainische Leckereien anbieten.

Der Erlös soll natürlich der Heimat zugutekommen, so Kluch: „Erst vor zwei Monaten waren wir mit einem 2,5-Tonner in Richtung Grenze unterwegs und übergaben in Warschau die Osterspenden. Ende März waren immerhin 500 Leute bei uns und haben 8000 Euro gegeben.“

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Es scheint wie eine Lebensaufgabe: Ob am Jungfernstieg, an den Landungsbrücken oder auf Hamburger Wochenmärkten, dreimal in der Woche plant Nataliia Perova einen stillen Protest, halten die Ukrainer zwei bis drei Stunden lang ihre Plakate hoch.

„Das erste Mal haben wir zu Kriegsbeginn auf 112 getötete Kinder hingewiesen. Jetzt im Juni 2024 sind es bereits 546“, sagt die Diplom-Betriebswirtin und sinniert: „Wir waren eine freie demokratische Nation, jetzt haben wir nur noch russischen Terror und Genozid.“