Hamburg. Nach 37 Jahren verlässt Holger Ramm das Pink Haus und erinnert sich an reichlich Randale der Straßengangs in Bergedorf-West.
„Die Skinheads wollten uns verdreschen, da haben wir ihre Autos demoliert. Und das war der Anfang vom Krieg in Bergedorf.“ Mit diesen Worten ließ sich die deutsch-türkische Gang „Grüne Bomber“ aus dem Hamburger Arbeitervorort Bergedorf-West zitieren. So stand es im August 1986 in der Zeitschrift „Wiener“.
In den 80er-Jahren tobten rivalisierende Straßengangs durch den Bezirk: Da waren einerseits die Neonazis aus Lohbrügge. Und auf der Gegenseite die „West-Bomber“, die Baseballkeulen im grünen Jackenärmel trugen – gemäß ihren Vorbildern aus der New Yorker Bronx. „Die nannten sich ‚Die harten 13‘ und prügelten sich mit den Skins, der Schlägertruppe in Springerstiefeln“, erinnert sich Diplom-Sozialpädagoge Holger Ramm: „Da war immer richtig Alarm.“
Bergedorf: Als „Die grünen Bomber“ das Quartier im Griff hatten
Wie nur ließ sich die Jugend bändigen? Immerhin eine Million Mark hatte das Bezirksamt in eine weiße Kaufmannsvilla investiert, die zuletzt am Oberen Landweg 2 als städtisches Kinderheim genutzt worden war. In einem zarten Pink war die Fassade gestrichen, als im Mai 1985 das neue Haus der Jugend Heckkaten auf 1400 Quadratmeter eröffnet wurde.
Doch der Start verlief mehr als mies: Randale, Probleme und „Stress im Laden“ rissen nicht ab – zumal sich das pädagogische Team nicht einig war, zugleich Folkloretänze und Näharbeiten bei den Kids auch nicht so gut ankamen. Bezirksamtsleiterin Christine Steinert (SPD) versetzte kurzerhand einen Mitarbeiter, ließ zu einer Sitzung das Rathaus abriegeln und bat um Polizeischutz.
Ausbildung zum Feinmechaniker und Besuch der Fachoberschule
„Der Druck war groß, das sagte sie mir schon bei meinem Bewerbungsgespräch deutlich. Offiziell könne ich erst im September 1986 eingestellt werden, möge aber bitte schon drei Monate vorher anfangen“, erzählt Ramm. Er war 28 Jahre alt und im eher beschaulichen Poppenbüttel aufgewachsen. Und geht jetzt, nach 37 Jahren im Pink Haus, in den Ruhestand.
Zunächst reizte ihn der Feinschliff: Auf eine Lehre zum Feinmechaniker folgte Maschinenbau an der Fachoberschule. Dann kam ein Job bei der Hochbahn, lernte er Nachrichten- und Signaltechnik in der Barmbeker U-Bahn-Werkstatt.
Mit 40 Tonnern zum Hamburger Hafen gebraust
„Anschließend war ich eineinhalb Jahre lang Lkw-Fahrer bei der Deutschen Bahn und brauste mit 40 Tonnern zum Hamburger Hafen“, erzählt der Mann, der nebenbei immer noch Jugendgruppenleiter bei den Falken war. Der sozialistische Jugendverband gab dann wohl auch den Anstoß für das Studium der Sozialpädagogik.
Ihr müsst clean sein, auf Gewalt verzichten und wissen, dass keiner besser ist als der andere. Diese drei Regeln gelten im Pink Haus bis heute. Das war anfangs alles andere als leicht. „In Bergedorf wächst die brutale Gewalt“, titelte noch im Mai 1990 die Bergedorfer Zeitung, nachdem sich Skins am Nettelnburger Baggersee (am Wiesnerring) mit Polizisten geprügelt und zwei Streifenwagen demoliert hatten.
Durch Verlässlichkeit den Respekt der Jugendlichen erarbeiten
„Wir hatten jährlich 60.000 Mark an Glasbruch-Schaden“, erinnert sich Holger Ramm an durch Fenster geflogene Billardkugeln, an verbogene Kickerstangen und zahlreiche Einbrüche. Es galt also, ein dickes Brett zu bohren: Ziele entwickeln, auf Bedürfnisse eingehen, Verantwortung tragen.
„Die Jugendlichen kommen aus Problemfamilien und kennen alle irgendwelche Sozialhanseln. Also muss man sich Respekt erarbeiten, durch Verlässlichkeit und Kontinuität“, so der Diplom-Sozialpädagoge. Zu den ersten vertrauensbildenden Maßnahmen zählte, sich ein Taschengeld als Türsteher zur „Rock-Fete“ verdienen zu können oder beim Cola-Ausschank am Tresen („Die Kasse stimmte nie“).
Aber auch nach dem städtischen Armutsbekämpfungsprogramm sei das Quartier ein sozialer Brennpunkt geblieben, so Ramm, der viele Arbeitslose und Alleinerziehende kennt. Längst ist das Projekt der „Kiezläufer“ eingeschlafen, die sich um die Kids auf der Straße gekümmert hatten. Jahre zuvor schon wurden die Straßensozialarbeiter (Wolfgang Harland und Lothar Knode) in Bergedorf-West abgezogen. Damit sei auch der einst „kurze Draht zum Jugendamt“ gekappt, klagt Holger Ramm: „Es gibt keinen fachlichen Austausch mehr. Da verschwindet plötzlich ein Jugendlicher und sagt uns nach einem halben Jahr, er sei in einem Heim in Bayern gewesen. Wir Pädagogen aber wurden nicht mal informiert.“
Als Familienersatz galt die Clique, als Notgemeinschaft: Vor der Corona-Pandemie seien täglich 60 bis 150 Jugendliche im Haus gewesen, heute sind es deutlich weniger, wenn auch mehr Mädchen. „Es sind viele Einzelgänger ohne Sozialkompetenz, die beklauen sich sogar untereinander“, beobachtet der 65-Jährige, der niemals Wert auf eine Altersbeschränkung legte: „Früher mussten 16-Jährige auf ihre kleinen Geschwister aufpassen und brachten die mit. Heute kommen 19-Jährige mit ihren Babys zu uns.“
Manches hat sich eben auch nach Jahrzehnten nicht verändert: „In Bergedorf blüht der Drogenhandel“, zitierte die Bergedorfer Zeitung die Kriminalpolizei im Februar 1990. Als Umschlagplätze wurden Wohnungen genannt, aber auch die Jugendtreffs im Lichtwarkhaus und im Pink Haus. Holger Ramm zuckt mit den Schultern: „Die Dealer sind mit mir alt geworden. Das sind die Opas unserer heutigen Besucher. Und die dealen immer noch.“
Nur wenige Bewerber um die Nachfolge
Dabei gilt das Motto „Keine Macht den Drogen“ bis heute, auch in den Musikstudios von „Lass 1000 Steine rollen“ im Keller. Hier wollte Projektleiter Holger Hillers ebenfalls in Rente gehen, aber es fand sich bislang noch keine Nachfolge: „Ich mache jetzt mittwochs und freitags weiter. Vielleicht kommen eher Bewerbungen, wenn nun bloß eine halbe Stelle ausgeschrieben ist.“
Trotz dünner Bewerberlage wird es Holger Ramm so nicht ergehen, nach seiner Pink Party zum Abschied am 28. März (zwischen 16 und 19 Uhr freut er sich auch auf viele Ehemalige). Denn seine Erzieher-Kollegen halten den Jugendclub samt Holzwerkstatt, Einrad- und Karatekursen offen: Panja Pölking ist seit 20 Jahren dabei, Kai Hähnel seit 34 Jahren.
Auch interessant
- So erlebten Bergedorfer Hitlerjungen den Zweiten Weltkrieg
- Jugendtheatertage: Chance für die Schauspielstars von morgen
- Jugendclub Clippo: Fundament für Neubau-Projekt verschwunden
Und was will der frische Rentner demnächst so anstellen? „Meine Frau, die das Spielhaus an der Lohbrügger Landstraße leitet, geht zum Jahresende auch in Rente. Dann wollen wir mehr Kajak auf der Elbe fahren.“ Außerdem habe er ja noch eine langjährige Leidenschaft – als Hausmeister einer Kita in Poppenbüttel.