Bergedorf. Ein altes Haus dient als sozialer Treffpunkt – samt Sprach- und Kochkursen, Sozialberatung, Kleiderkammer und hoffnungsvollen Gebeten.

Es ist dieser Tage schon eine recht ungewöhnliche Kombination, wenn es in einer russischen Freikirche soziale Angebote und Beratungen für Flüchtlinge aus der Ukraine gibt. So am Brookdeich 180. Wie es dazu kam.

Als Wasilij Schetnikov 1996, ein Bauer und Chauffeur aus Sibirien, mit seiner Familie in Neuallermöhe eine neue Heimat fand, machte er eine Ausbildung zum Pastor – „unter anderem bei einem Bibel-Institut in der Ukraine“, sagt er. Sodann gründete er den gemeinnützigen Verein „Christlich-evangelische Gemeinde Gottes Botschaft“, dessen Mitglieder zunächst in den alten Schulpavillons neben der Gretel-Bergmann-Stadtteilschule beteten, auf Russisch natürlich. „Und als das DRK sein 300 Quadratmeter großes Haus am Brookdeich nicht mehr brauchte, hat man es 2005 uns angeboten“, erzählt der heutige Vorsitzende, Artem Schetnikov. Er war 14, als er nach Deutschland kam, machte eine Schlosserlehre, arbeitete zehn Jahre als Erzieher und studierte Sozialpädagogik. Heute arbeitet er bei den Bergedorfer Familienhelden.

Gebete mit allen, die traditionell auf die Bibel vertrauen

Das Soziale liegt ihm im Blut – auch ehrenamtlich will er Nächstenliebe in die Tat umsetzen: „Zwischenzeitlich haben hier sieben Obdachlose übernachtet, Drogenabhängige und baltische Arbeiter“, sagt er. Dazu kommen jeden Sonntag die Christen zum Gottesdienst: Zwischen 11 und 14 Uhr sind alle willkommen, die auf der Suche nach Gott sind und die Bibel traditionell als Grundlage anerkennen. „Alle außer den Zeugen Jehovas“, betont Pastor Schetnikov (65), der ist übrigens ein Fan von deutschen und ukrainischen Volksliedern ist.

Lidiia, Alla und Pastor Wasilij singen gern zu den Liedern des Gitarristen Viktor.
Lidiia, Alla und Pastor Wasilij singen gern zu den Liedern des Gitarristen Viktor. © bgz | Anne Strickstrock

Und plötzlich kam der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Fördern & Wohnen brauchte dringend Betten für die Flüchtlinge, doch die Unterkunft am Brookdeich schien nicht gut geeignet. „Zwar konnten wir mit Rise-Mitteln die Toiletten ertüchtigen, aber das reichte nicht“, sagt Bergedorfs Integrationsbeauftragte Mirjam Hartmann. Außerdem wusste sie ja, dass das Haus auf städtischem Grundstück nur gepachtet ist und große Investitionen nicht lohnen: „Sobald der Innovationspark kommt, wird das Gebäude abgerissen.“

Am Brookdeich 180 steht das 300 Quadratmeter große Haus, in dem die russische Freikirche betet und mit anderen Trägern soziale Hilfen anbietet.
Am Brookdeich 180 steht das 300 Quadratmeter große Haus, in dem die russische Freikirche betet und mit anderen Trägern soziale Hilfen anbietet. © bgz | Anne Strickstrock

Inzwischen jedoch leben 2700 ukrainische Flüchtlinge im Bezirk Bergedorf, gut die Hälfte wohnen bei Freunden und Verwandten, die anderen sind in Hotels untergebracht. Da aber wollen sie tagsüber nicht bleiben. Und so kam Hartmann auf die Idee einer Begegnungsstätte am Brookdeich, wo schon zu Familienfesten mit Karaoke eingeladen wurde, auf dem großen Fußballplatz hinter dem Haus. „Auch wenn die Menschen viel verloren haben, wollen sie doch trotz ihrer Koffer-Stimmung noch das Leben genießen“, sagt Artem Schetnikow. Wobei der 41-Jährige sehr deutlich betont, dass politische Auseinandersetzungen vor der Tür bleiben müssen: „Leute aus Telegram-Gruppen wollen wir hier nicht haben.“

Beschäftigung für geflüchtete Senioren

Inzwischen sind 60 Menschen in der WhatsApp-Gruppe, die sich für Treffen verabreden – am liebsten in der großen Küche. „15 Prozent der Flüchtlinge sind über 60 Jahre alt. Sie wollen sich nützlich und gebraucht fühlen, auch wenn manche pflegebedürftig sind“, weiß die Integrationsbeauftragte – und ergänzt: „Die älteren Leute aus Syrien und Afghanistan schaffen es ja nicht mehr bis nach Deutschland.“

In der kleinen Kleiderkammer steht Artem Schetnikov neben Elena Yaman. Die 38-jährige Speditionskauffrau aus Kasachstan hilft dem Bergedorfer Unternehmen Ensino, das zur Corona-Zeit am Achterdwars gegründet wurde, sich auf Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit spezialisiert hat.
In der kleinen Kleiderkammer steht Artem Schetnikov neben Elena Yaman. Die 38-jährige Speditionskauffrau aus Kasachstan hilft dem Bergedorfer Unternehmen Ensino, das zur Corona-Zeit am Achterdwars gegründet wurde, sich auf Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit spezialisiert hat. © bgz | Anne Strickstrock

Zwiebeln schneiden, Mehl und Schmand kneten, Eier aufschlagen: Bei der Zubereitung der gefüllten Teigtaschen „Wareniki“ hat Antonina Tyshehenko großen Spaß. Die 73-Jährige kam mit Tochter und zehnjähriger Enkelin aus Charkiw. Beim Kochen sitzt sie neben Nina Ponomarenko (72) aus Donezk: „Ich liebe Deutschland. Wir sind hier Freundinnen geworden.“

Wichtig ist aber auch die Sozialberatung, die im Auftrag des Bezirksamtes zweimal wöchentlich vom Verein Sprungbrett angeboten wird. Hier helfen in vertrauter Sprache zwei Mitarbeiterinnen aus Georgien und Kasachstan, wenn es etwa um den Aufenthaltsstatus geht, um die Krankenversicherung oder die Masernimpfung vor dem ersten Schulbesuch. Selbst bei der Jobsuche war das Team schon erfolgreich: Ein Ehepaar, das jahrelang als Elektro-Ingenieure in einem Atomkraftwerk gearbeitet habe, sei erfolgreich zu einem Heizungsbauer in Tiefstack vermittelt worden.

Bergedorfs Integrationsbeauftragte Mirjam Hartmann hat viele Ideen und mag „lieber konkrete Maßnahmen als theoretische Strategien“.
Bergedorfs Integrationsbeauftragte Mirjam Hartmann hat viele Ideen und mag „lieber konkrete Maßnahmen als theoretische Strategien“. © bgz | Anne Strickstrock

Während der Internationale Bund am Brookdeich Deutsch unterrichtet, hat sich das Bergedorfer Unternehmen Ensino auf soziale Angebote verlegt: Die „Willkommensräume“ mögen Freiraum bieten, sagt Geschäftsführerin Nina Marten. „Wir geben hier seit Juli 2023 einen Rahmen und Impulse, damit die Leute selbst etwas machen können“, so die Sonderpädagogin, die Ausflüge und kreative Angebote plant, im Frühjahr Hochbeete mit Kohlköpfen. „Wir möchten mehr ermöglichen als betreuen.“ Noch bis zum Juli werde das Projekt über die Hamburger Bürgerstiftung finanziert. Auch danach wird die 38-Jährige noch genug zu tun haben: „Wir bieten in der Grundschule Leuschnerstraße eine ‚Spürzeit‘ mit Kinderyoga an. Und in der Unterkunft an der Brookkehre bauen wir gerade einen kinderfreundlichen Raum als Rückzugsort für Schüler aus.“

Angebote zusammengepuzzelt, aber passend

Am Brookdeich aber werkeln viele Hände mit: „Das Haus ist mit seinen vielen Angeboten ein bisschen zusammengepuzzelt, aber es passt sehr gut“, ist die Integrationsbeauftragte Mirjam Hartmann überzeugt – und weiß, dass schließlich auch die kleine Kirchengemeinde mit ihren bloß 15 Mitgliedern Geld braucht, um die Pacht von 400 Euro im Quartal zu bezahlen. „Wir leben von Spenden und der Parkplatzvermietung. Eigentlich ist es ein Wunder Gottes, dass wir noch nie im Minus waren“, sagt Artem Schetnikow lachend.

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Und so hoffen einerseits alle, dass das Haus noch lange wird stehenbleiben können. Und dass natürlich der Krieg bald vorbei ist. Und dass niemand mehr in Flüchtlingsunterkünften leben muss: „Statt Hotels wären Regelstandorte für Serientypenhäuser besser. Dafür prüfen wir gerade einige Standorte in Bergedorf“, kündigt die Integrationsbeauftragte an.