Hamburg. Prof. Marco Sailer ist auf der Reeperbahn und in sozialen Brennpunkten unterwegs, versorgt dort Obdachlose – bald auch in Bergedorf?
Ein- bis zweimal pro Monat tauscht Prof. Dr. Marco Sailer sein Bergedorfer Chefarzt-Büro mit einem ehrenamtlichen Einsatz auf der Reeperbahn oder beim Drogen-Hotspot am S-Bahnhof Holstenstraße. „Das sind fünf Stunden Basisarbeit für Menschen, die unser kleines medizinisches Team wirklich brauchen“, sagt der ärztliche Direktor des Agaplesion Bethesda Krankenhauses.
Zusammen mit einer ebenfalls ehrenamtlichen Pflegekraft und zwei weiteren Helfern bildet der 61-jährige Chirurg dann die Besatzung des ArztMobils Hamburg. Seit einem Jahr ist Sailer mittlerweile dabei und will die Arbeit mit den vielen Obdachlosen, Drogenabhängigen aber auch immer mehr Bürgergeld-Empfängern und Grundsicherungsrentnern nicht missen: „Es herrscht ein sehr höflicher Umgang miteinander. Die Patienten sind durchweg sehr freundliche und liebenswerte Menschen, die genau wissen, welcher Schatz das ArztMobil für sie ist.“
ArztMobil Hamburg: Stimmung der Patienten besser als in mancher Notaufnahme
Im Durchschnitt sei die Stimmung sogar besser als die der Patienten in mancher Notaufnahme, auch der des Bethesda Krankenhauses in Bergedorf. „Bei uns gibt es immer wieder Menschen, die nur sich selbst und ihre gesundheitlichen Probleme sehen“, weiß Marco Sailer. „Das ist im Milieu der Hamburger Problemstadtteile ganz anders, wenn wir dort stets sonnabends und sonntags von 13 bis 18 Uhr stehen. Wahrscheinlich auch, weil kaum jemand dieser Patienten krankenversichert ist.“
Mehr als 3200 Menschen hat die 2016 gegründete Initiative in ihrem ArztMobil allein im vergangenen Jahr behandelt. Die Tendenz ist von Jahr zu Jahr deutlich steigend. Wer kommt, wird von den beiden Helfern vor der mobilen Praxis mit Obst, Tee und anderen Vorräten versorgt, kann warme Kleidung, einen Schlafsack und vor allen die wichtigesten Hygieneartikel mitnehmen. Wer einen Arztbesuch braucht, wird hier auf die Behandlungsliste gesetzt – mit Termingarantie am selben Tag.
Prof. Dr. Marco Sailer hat Erfahrung in der Entwicklungshilfe in Simbabwe
„Wir haben hier neben teils heftigen Infektionen, vor allem der Atemwege, sehr viel mit der Versorgung von Wunden zu tun, die oft gefährlich stark entzündet sind“, berichtet Chirurgie-Chefarzt Sailer. „Das sind die indirekten Folgen des Drogenkonsums, besonders bei den unzähligen Stichwunden, die die Abhängigen in den Beinen haben.“
Während sich die Initiative seit 2019 über ein Methadon-Programm mit bereits beachtlichen Erfolgen auch um die Entwöhnung der Junkies kümmert, sieht Sailer seine Rolle weiter im ArztMobil: „Gerade diese armen Menschen brauchen regelmäßige ärztliche Unterstützung“, weiß er nicht zuletzt aus seinem dreijährigen Einsatz Anfang der 90er-Jahre als Arzt in der Entwicklungshilfe in Afrika.
„Von 1989 bis 1992 habe ich in Simbabwe gearbeitet. Das war Basisarbeit und eigentlich kaum anders als heute auf der Reeperbahn“, sagt der Bergedorfer, der auch hier seine bis zu 40 Patienten pro ArztMobil-Einsatz nur mit Vornamen und Alter kennt. „Nach einem Jahr haben viele trotzdem schon ein enges Vertrauensverhältnis zu mir.“
Bergedorfs Pluspunkt-Apotheken sind wichtige Unterstützer des ArztMobils Hamburg
Einer der wichtigsten Spender des Projekts kommt ebenfalls aus Bergedorf: Apotheker Marijan Kreth unterstützt das ArztMobil Hamburg schon seit fünf Jahren. In seinen beiden Pluspunkt-Apotheken im Sachsentor werden Spenden gesammelt, oft aufgestockt und große Teile der Versorgung des Projekts mit Medikamenten, Pflege- und Hygieneartikeln zu günstigen Konditionen organisiert. Zudem können Kunden für 36 Euro einen Schlafsack für Hamburgs Obdachlose kaufen und um Hygieneartikel, Lebensmittel oder warme Kleidung ergänzt über die Apotheken direkt ans ArztMobil weiterreichen.
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Für Prof. Sailer sind die Spenden ebenso wichtig wie sein ehrenamtlicher Einsatz: „Hier haben wir alle die Chance, etwas für die Menschen vor unserer Haustür zu tun, die es im Leben nicht so gut getroffen haben wie wir selbst.“ Sein zweites Jahr im Dienst des Projekts will der Chefarzt nun dafür nutzen, das ArztMobil Hamburg auch für Bergedorf zu erschließen: „Zumindest aus meiner Sicht wäre es denkbar, hier vielleicht monatlich einen Termin anzubieten.“
Der Bedarf wäre groß. Denn kaum einer der rund 70 Obdachlosen, die im Bergedorfer Zentrum leben, nutzt die Angebote in Hamburg. Einerseits können sie sich die Bahnfahrkarte nicht leisten, andererseits werden die Bergedorfer von den dortigen Obdachlosen nicht geduldet. Schon gar nicht, wenn die „Fremden“ die Hamburger Hilfsinstitutionen ansteuern.