Hamburg. Der 16-Jährige ist ein alter Hase als Rennfahrer. Jetzt lernt er die Kunst des Langsam-Fahrens kennen – und ist nachdenklich.
In der Formel 4 gilt der 16-jährige Bergedorfer Tim Tramnitz nach zwei Saisons mittlerweile als alter Hase. Im vergangenen Jahr holte er sowohl in der deutschen als auch in der italienischen Formel-4-Serie jeweils den zweiten Platz in der Gesamtwertung und trat damit in die Fußstapfen von Formel-1-Pilot Mick Schumacher, dem dies 2016 ebenfalls gelungen war.
Rennfahrer Tim Tramnitz besucht jetzt die Fahrschule
Doch während Tramnitz auf der Rennstrecke Erfolge feiert, ist er im täglichen Straßenverkehr – wie jeder andere 16-Jährige in Deutschland auch – auf sein Fahrrad angewiesen oder muss sich von den Eltern kutschieren lassen. Kein Wunder, dass der Wunsch nach dem „Lappen“ groß ist.
In „Harry’s Fahrschule“ in Bergedorf absolvierte er nun seine erste Fahrstunde. Im 310 PS starken Cupra Formentor ging es an der Seite von Fahrlehrer Harald „Harry“ Basler über die Landstraße in Richtung Lüneburg. Tempo 250 schafft der Wagen, so viel wie ein Formel-4-Bolide. Doch stattdessen war für Tramnitz Tempo 50 angesagt. Und auch das kann ganz schön herausfordernd sein, wie er feststellte. „Man muss eine Menge Dinge im Blick behalten“, schildert er seine ersten Eindrücke. „Diese Radfahrer kommen wirklich aus dem Nichts!“
40 Stunden braucht ein Fahrschüler in Hamburg – mindestens
Basler schmunzelt. Er ist seit 27 Jahren Fahrlehrer, hat seit 2005 seine eigene Fahrschule an der Bergedorfer Schlossstraße und kennt das natürlich. „In den ersten Stunden fahren wir immer raus aufs Land“, erläutert
er. „Man will ja nicht die Leute nerven.“ Fahrschüler, die das Fahren schon beherrschen, gebe es zwar häufiger, etwa Jugendliche, die mit dem Treckerfahren auf einem Bauernhof groß geworden sind. Aber der Weg zum Führerschein sei trotzdem weit. „In Hamburg liegt der Schnitt bei über 40 Fahrstunden“, erläutert Basler. Gelernt wird sowohl auf Automatik- als auch auf Schaltwagen. „Bei der Führerschein-Prüfung werde ich wohl nervöser sein als beim Start eines Rennens“, blickt Tramnitz voraus. „Durchzufallen wäre schon ein bisschen peinlich.“
Bremsversagen! Schwerer Unfall beim Renntraining in Estoril
Auch Basler ist im Motorsport zu Hause. Der 62-Jährige ist früher Motorradrennen gefahren. „Einmal war sogar Michael Schumacher dabei“, erinnert er sich. „Der war auch auf zwei Rädern echt schnell.“ Der siebenfache Formel-1-Weltmeister ist mit seinem tragischen Skiunfall 2013 aber auch ein Beispiel dafür, wie schnell sich das Leben ändern kann. Das Risiko fährt auch im Rennsport immer mit. „Früher habe ich gedacht, Unfälle passieren nur anderen, nicht mir selbst“, gibt Tim Tramnitz zu.
Bis zum 2. Dezember 2021: Training in Estoril (Portugal). „Es war ein Coaching. Ich war als Referenzfahrer für einen anderen unterwegs, der hinter mir herfuhr“, erinnert sich Tramnitz. Nach einem Boxenstopp versagten an seinem Rennwagen gleich in der ersten Kurve die Bremsen. Mit 150 Kilometern pro Stunde rauschte der Bergedorfer in eine Begrenzungswand. Der Wagen: Totalschaden. „Ich wollte noch aussteigen, aber die Schmerzen waren zu stark“, schildert er. Ein Lendenwirbel war bei dem Aufprall zertrümmert worden. Zu seinem großen Glück verfehlten die Splitter die Nervenbahnen, was Lähmungen hätte nach sich ziehen können. Zudem war es eine glückliche Fügung, dass sich das Unglück so nah an der Boxengasse ereignet hatte. „Binnen 30 Sekunden war der Krankenwagen da“, erinnert sich Tramnitz. „Ich durfte mich nicht mehr bewegen und wurde drei Tage später operiert.“ Jetzt halten sieben Schrauben und zwei Stäbe den Wirbel zusammen.
Viel Zeit zum Nachdenken. Gab es Zweifel?
In den Wochen der Reha hatte der 16-Jährige viel Zeit zum Nachdenken. Erst im Sommer hatte Tramnitz für die Rennsport-Karriere die Schule beendet, war nach der zehnten Klasse mit der Mittleren Reife vom Luisen-Gymnasium abgegangen. Und nun? Gab es Zweifel, ob er weitermachen sollte? „Nein, eigentlich nicht“, sagt er mit Nachdruck. „Das kam eher von meinen Eltern, die sich Sorgen gemacht haben. Für mich kam es gar nicht infrage, mit dem Rennsport aufzuhören.“ Frühestens im März darf er wieder in ein Rennauto steigen, dann wohl in der Formel 3. Dort sind die Autos noch einmal 30 Stundenkilometer schneller als in der Formel 4. Zeit zum Eingewöhnen gibt es für junge Talente trotzdem nicht. „Es gibt keine Lehrjahre. Ich muss sofort liefern“, beschreibt Tramnitz den Erwartungsdruck, der auf ihm lastet. Und den er sich auch selbst macht: „Ich nehme mir einen Platz in den Top fünf vor.“
Höhepunkt der Saison ist das Rennen in Monaco
Ende April beginnt die Saison im italienischen Monza. Bis dahin hält er sich fit, so gut es geht: „Ich darf alles machen, was den Rücken nicht belastet.“ Der Aufwand im Motorsport ist gewaltig. Unmittelbar nach seiner ersten Fahrstunde flog Tim Tramnitz zum Simulator-Training nach Mailand. Trotz der Verletzung gibt es viel Neues zu lernen. Erstmals könnte der Bergedorfer in diesem Jahr auf dem berühmten Stadtkurs von Monaco fahren. Vom 26. bis 29. Mai bildet die Formel 3 dort das Rahmenprogramm der Formel 1. Tramnitz würde dann also mit den Stars der Szene die Boxengasse teilen. „Man trifft sich allerdings kaum, weil jeder an so einem Rennwochenende ständig auf Trab gehalten wird“, schränkt er ein. Doch spätestens dann wird der Unfall von Estoril weit, weit weg sein. Aber bis dahin heißt es erst einmal weiterhin im Fahrschul-Auto an der Seite von Harry Basler: Gas geben, bremsen, rückwärts-seitwärts einparken.