Bergedorf/Lampedusa. Kapitän Ingo Werth aus Lohbrügge berichtet von seinem aktuellen Einsatz im Mittelmeer für den Verein „Resqship“.
Seit einer Woche ist der Lohbrügger Ingo Werth wieder im Flüchtlingseinsatz auf dem Mittelmeer. Als Kapitän steuert der 62-Jährige ehrenamtlich den 19 Meter langen Motorsegler „Nadir“ des Vereins „Resqship“. Offizielle Aufgabe ist, wie berichtet, zwar nur die Beobachtung der Situation und die Weitergabe von in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten an die italienische Küstenwache.
Aber ein so distanzierter Einsatz ist an der „tödlichsten Grenze der Welt“, wie Werth das Mittelmeer nennt, kaum möglich. Das zeigt der Bericht vom vergangenen Wochenende, den uns Ingo Werth per E-Mail vom Handy zugesandt hat.
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Bordbericht von der „Nadir“ für 31. Juli und 1. August
„Wir bewegen uns im zentralen Mittelmeer zwischen Lampedusa und den libyschen Hoheitsgewässern, kreuzen von Ost nach West. Ich habe schon viele Einsätze hier unten geleitet, aber so heiß wie heute war es selten zuvor. Etwa 40 Grad, keine Wolke, kein bisschen Wind, wir müssen unter Maschine fahren.
Wir hören einen Notruf. Ungefähr 28 Seemeilen entfernt befindet sich ein Boot mit 87 syrischen Menschen in akuter Not. Der Motor ist ausgefallen, sie haben kein Wasser. Was das bei 40 Grad im Schatten heißt, können wir genau nachempfinden. Zwei Schwangere und zwei Babys sollen an Bord sein. Wie würden sie die Strapazen überstehen?
Die sogenannte libysche Küstenwache hat das Boot geentert
Drei Stunden später erreichen wir das Boot, genau an der Stelle, die wir berechnet haben. Ein trauriges Bild: Die von den EU-Staaten finanzierte sogenannte libysche Küstenwache hat das Boot geentert, die Motoren gestohlen und die Menschen wohl wieder in die Gefängnisse und Folterlager des Unrechtsstaates gebracht. Die Crew hätte gerne Hilfe angeboten, es ist immer bitter, zu spät zu kommen, schlimmer aber wiegt die Gewissheit, dass den Menschen ein erneutes Martyrium bevorsteht.
Etwa sechs Stunden später hören wir einen Notruf, der uns schaudern lässt: Ein großes Holzboot mit etwa 400 Menschen an Bord treibt mit ausgefallener Maschine etwa vier Stunden westlich von uns auf ein gesperrtes Gebiet von Gasbohrinseln zu. 20 Menschen an Bord sollen schon gestorben sein, es gibt kein Wasser. Das Boot ist zweistöckig und hochgradig kentergefährdet.
Alle Schiffe sind per Gesetz zur Hilfeleistung verpflichtet
Der Motor steht, deshalb arbeiten die Pumpen nicht mehr. Unweigerlich läuft das Holzboot voll. Wir sind kein Rettungsschiff, aber in diesem Fall werden alle verfügbaren Schiffe gebeten, Hilfe zu leisten. Alle Schiffe sind per Gesetz zur Hilfeleistung verpflichtet.
Genau um Mitternacht treffen wir ein, unterwegs haben wir uns genau besprochen, die Zuständigkeiten geklärt. Das Beiboot ist startklar, die eine Stunde vorher eingetroffene Besatzung eines Rettungsschiffs hatte mit großer Dringlichkeit um die Bereitstellung aller verfügbaren Rettungsmittel gebeten.
„Muss aufpassen, mit der Schraube keinen der Menschen zu erwischen“
Es ist gespenstisch, die Bohrtürme sind hell erleuchtet, das Meer ist schwarz, der Mond geht erst um 2 Uhr auf. Von überall her Hilferufe, Schreie, Stöhnen und die Rettungspfeifen. Der Wind hat die Menschen inzwischen auf einem großen Gebiet ,auseinander geweht’.
Unser Beiboot ist im Wasser, die Updates von dem Rettungsschiff kommen per Funk. Der Schnellboot-Fahrer muss achtgeben, dass er niemanden mit der Schraube verletzt. Ich muss aufpassen, nicht einen der vielen Menschen im Wasser mit der ,Nadir’ über den Haufen zu fahren. Ganz, ganz vorsichtig navigieren, niemanden unter Wasser drücken.
Einige können schwimmen, viele Menschen nicht
Meine Crew steht mit Scheinwerfern an Deck, klettert Bordleitern runter, reicht den Menschen die Hände. Einige können schwimmen, viele nicht, einen erwischen wir gerade noch, bevor er untergeht. In dieser Nacht retten wir und zwei andere Schiffe 394 Menschenleben.
Zum Schluss das Unfassbare: Auch die libysche Küstenwache war mit einem sehr schnellen Schiff unterwegs dorthin. Doch zehn Seemeilen vor dem Ziel drehen sie einfach um, ließen die Menschen bewusst sterben. Ein 74 Meter großes Arbeitsschiff liegt nur vier Seemeilen entfernt vom Unglücksort, ignoriert die Hilferufe aber komplett.“