Hamburg. Fallzahlen sind im Corona-Jahr gesunken. Vorwiegend mit Sexualdelikten zu tun. Experte vermutet: “Vieles komme jetzt nicht ans Licht“.

Er steht im Flur, sobald sie die Haustür verlässt, er grinst aus dem Küchenfenster. An manchen Tagen klingelt zehnmal das Telefon, seine Stimme bleibt stumm. „Er lauert seiner Nachbarin auf und nervt durch ewige Nachstellung“, erzählt Werner Springer, der die Bergedorferin beim „Weißen Ring“ beraten hat. Gleich zwei ähnliche Fälle meldeten sich im vergangenen Jahr beim Opferhilfeverein. Dabei hatten die sechs Mitarbeiter der Bergedorfer Außenstelle insgesamt weit weniger zu tun als noch 2019: „Der Rückgang liegt bei etwa 30 Prozent. Statt zuvor 91 meldeten sich 65 Kriminalitätsopfer bei uns“, entnimmt der verrentete Polizeihauptkommissar seiner Statistik.

"Weißer Ring" in Bergedorf hatte weniger zu tun als noch 2019

Noch komme die vorausgesagte Steigerung der Fallzahlen nicht im Hellfeld an. Optimistisch zu sein wäre allerdings naiv, warnt Springer: „Im Corona-Jahr hockten viele Menschen zu eng zusammen, um sich eine Beratung holen zu können. Zudem brach das soziale Umfeld vielfach weg, sodass auch Kindergärtnerinnen und Lehrern weniger Auffälligkeiten anzeigten.“ Dass die Zahl der Körperverletzungen von zuvor 30 auf 21 Fälle gesunken ist, möge dem Wegfall von Großveranstaltungen geschuldet sein: „Wenn Discos und Gaststätten geschlossen haben, es keine Konzerte gibt, werden auch weniger Prügeleien gemeldet“, sagt der 67-Jährige.

170 Stunden investierten die Ehrenamtlichen in die Beratung (sonst sind es doppelt so viele) und hatten vorwiegend mit Sexualdelikten zu tun – immerhin 17 statt im Vorjahr 14 Fälle. Oftmals sei ein Missbrauch im Kindesalter erst viele Jahre später gemeldet worden. Aber es gab auch die Familie, die mit ihren beiden Söhnen Urlaub auf einem Campingplatz machte, wo die Kinder sexuell missbraucht worden waren. Hier waren anschließend psychologische Hilfen und rechtlicher Beistand gefragt.

In Notlagen befinden sich auch viele Senioren

20 Gutscheine für eine erste, kostenlose Beratung beim Anwalt oder beim Psychotherapeuten gab der „Weiße Ring“ aus, dazu 10.500 Euro an finanziellen Hilfen. Mal wurde eine Mietkaution übernommen, ein anderes Mal brauchte eine Billstedterin Geld für ein neues Bett, Tisch und Geschirr, nachdem ihr Freund alles kurz und klein geschlagen hatte. „Sie blieb in der Wohnung, aber der Mann kam in Haft, nicht zuletzt wegen sexueller Übergriffe“, sagt Werner Springer.

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In Notlagen befanden sich auch Senioren, die ihre ganze Rente vom Konto abgeholt hatten und ausgeraubt worden waren. „Sie sind nicht mehr so mobil, wollen nicht jede Woche zur Bank und halten es wie früher mit der Lohntüte, die mit nach Hause genommen wurde“, erklärt der ehemalige Polizist. Von sechs Diebstählen, zwei Einbrüchen und drei Rauben, indes keinem einzigen Enkeltrickbetrug wurde ihm berichtet: „Da liegt die Schamgrenze wohl sehr hoch.“

Zwei Drittel der Menschen, die um Hilfe baten, sind weiblich

Höher sollte das Misstrauen auch bei Online-Käufen sein, meint der Berater und erinnert das „unglaublich günstige E-Bike, für das Vorkasse verlangt wurde“. Natürlich kam die Ware niemals an, hatte die Firma nur drei Wochen später einen anderen Namen, hätten „wenige Mausklicks genügt, um die Vertrauenswürdigkeit dieses Händlers anzuzweifeln“.

Zwei Drittel der Menschen, die 2020 um Hilfe baten, sind weiblich. Nicht immer lagen tragische Fälle vor, manchmal wurde gebeten, bei der Wohnungssuche zu helfen oder zivilrechtliche Fragen zu klären. „Da merkte man, dass die öffentliche Rechtsauskunft und auch andere Beratungsstellen geschlossen hatten“, meint Werner Springer, der während der Pandemie selbst bloß telefonisch (0151/55 16 47 75) erreichbar ist. Hier dürfen sich auch Menschen melden, die den Verein unterstützen wollen: „Wir brauchen dringend Nachwuchs, denn mit einer neuen Normalität werden vermutlich auch die Fallzahlen wieder steigen.“