Hamburg. Untersuchung zeigt weiter hohe Werte. Leichte Entwarnung für Anwohner. Einige Fragen bleiben aber offen.
Das vergiftete Areal wurde abgeriegelt, Experten sammelten 900 Bodenproben, Beeren und Pilze wurden getestet, sogar Fische kamen unters Messer. Nach den alarmierenden Dioxinfunden im Naturschutzgebiet Boberger Niederung hat die Hamburger Umweltbehörde keinen Aufwand gescheut, um Klarheit über das Ausmaß des Umweltskandals zu erlangen. „Extrem hoch“, nannte ihn Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) bei der Präsentation der Untersuchungergebnisse am Dienstag.
Immerhin sei sich das Amt jetzt aber sicher: Der schwerwiegende Anfangsverdacht hat sich nicht erhärtet, eine großflächige Verseuchung liegt ebensowenig vor wie eine erhöhte Gesundheitgefahr für Anwohner. Trotz dieser ersten Entwarnung sprach Kerstan weiterhin von einem „schweren Umweltvergehen“. Zumal auch neun Wochen nach dem Beginn der Untersuchungen einige Fragen unbeantwortet seien.
Langjährige Sanierung ist unerlässlich
Denn grundsätzlich hat sich die stellenweise extrem hohe Kontamination mit dem als Seveso-Gift bekannt gewordenen Abfallprodukt Dioxin bestätigt. Eine langjährige Sanierung der betroffenen, etwa ein Hektar großen Fläche, sei unerlässlich. Vor allem in der oberen Erdschicht sei die Konzentration hoch.
Klar scheint auch, dass das Gift – wie vermutet – aus dem 1984 geschlossenen Moorfleeter Werk des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim stammt. Das habe eine Art chemischer Fingerabdruck ergeben. Eine Erklärung, wie das Gift aus der Pflanzenschutzmittelproduktion nach Boberg gekommen ist, blieb der Konzern bislang aber schuldig. Da es sich um „mit Bauschutt versetztes Erdreich“ handelt, liege der Verdacht einer illegalen Verklappung in der 60er-Jahren nahe. Zu dieser Zeit gab es dort eine Baustraße.
Kein erhöhtes Krebsrisiko für Anwohner
Die Gespräche zwischen Stadt und Firma dauerten an, sagte Kerstan. Über deren Inhalt schwieg sich der Senator aber aus. „Wir haben noch nichts Gerichtsfestes, aber wir haben unsere Erwartungen an die gesellschaftspolitische Verantwortung des Konzerns“, sagte er. Boehringer habe beim letzten Gespräch dafür Anwälte dabei gehabt.
Weil die Belastung mit dem krebserregenden Stoff nach den ersten Tests in der Boberger Niederung an einigen Stellen mit 700 Mikrogramm pro Kilogramm die höchste war, die bisher in Hamburg gemessen wurde, hatte die Gesundheitsbehörde zusätzlich die Krebserkrankungen der Gegend über einen Zeitraum von 20 Jahren mit anderen, vergleichbaren Stadtteilen abgeglichen. Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks sagte, es gebe „keinerlei Auffälligkeiten“.
Besorgte Eltern bekommen Beratung
Da Dioxin vor allem gefährlich ist, wenn es über die Nahrung aufgenommen wird, könnten Vergiftungen über die Atemluft bei regelmäßigen Spaziergängern ausgeschlossen werden. Auch das Fischen, Baden oder Pilzesammeln war und ist unbedenklich, so die Senatorin. Weder in den angrenzenden Wohngebieten, noch in den Angelteichen, Badeseen oder im Grundwasser wurden Kontaminationen mit Dioxin festgestellt. Auch die Proben von Beeren, Pilzen und Fischen wiesen laut Behörde keine erhöhten Dioxin-Werte auf.
Die Sorge der Anwohner, so Prüfer-Storcks, sei trotzdem berechtigt. Kinder, die im Laub oder auf dem Waldboden gespielt haben und womöglich Sand in den Mund genommen haben, wären durchaus einem erhöhten Risiko ausgesetzt gewesen. Für die Einzelfallprüfung wurde im Bezirksamt Bergedorf eine ärztliche Beratungsstelle eingerichtet. Besorgte Eltern können sich dort unter Angabe von Ort, Dauer und Häufigkeit des Spielens Rat für eine Untersuchung holen.
Am Dienstagabend wollen sich Umwelt- und Gesundheitsbehörde ab 17.30 Uhr in der Stadtteilschule Mümmelmannsberg den Fragen der Anwohner stellen.
Bisher 250.000 Euro in Untersuchung gesteckt
Die nach dem ersten Zufallsfund genommenen 900 zusätzlichen Bodenproben stammen aus unterschiedlichen Tiefen. Der höchste dabei gemessene Wert lag nun bei 24 Mikrogramm pro Kilogramm. Der gesetzliche Schwellenwert beträgt ein Mikrogramm, Kinderspielplätze werden ab 0,1 Mikrogramm geschlossen.
Kerstan sprach von dringendem (und gesetzlich vorgeschriebener) Handlungsbedarf, selbst wenn sich die betroffene Fläche nun strak eingrenzen ließe. Ein Sanierungsplan werde erarbeitet. Ob die verseuchte Erde dabei abgedeckt oder abgetragen werde, sei noch unklar. 3 bis 4 Jahre dauere die Sanierung in jedem Fall. “Wir prüfen, wie das ablaufen kann“, sagte Kerstan. „Die Anwohner werden frühzeitig informiert.“
Boehringer und der Skandal von 1984
Bisher haben die Untersuchungen etwa 250.000 Euro gekostet. Staatsanwaltschaft und Polizei würden laut Senator weiter ermitteln, vor allem, wie das belastete Material nach Boberg gekommen sein kann. Ein Vertreter von Boehringer war bei der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse nicht vor Ort.
Bekanntlich hatte der Chemiekonzern Boehringer Ingelheim 1984 in Moorfleet einen der größten Umweltskandale der Bundesrepublik verantwortet. Die Fabrik verstieß massiv gegen die Auflagen der Umweltbehörde, auf Deponien auf der Veddel und in Georgswerder wurden Dioxin verseuchte Abfälle gefunden. Es war das erste Mal in Deutschland, dass eine Behörde einen großen Chemiebetrieb wegen Vergehen gegen den Umweltschutz schließen ließ.
Bei Boehringer selbst waren 1.600 Arbeiter betroffen. Viele von ihnen erkrankten an Krebs oder anderen Krankheiten, die mit Dioxin in Verbindung gebracht werden.