Im März 1945 kam Eugen Rauchwerger im Konzentrationslager Neuengamme um. 71 Jahre später machte seine Tochter eine Entdeckung.

Das kleine Mädchen auf dem Arm des Vaters, eine Schwarz-Weiß-Fotografie, jahrzehntealt: Dieses Bild und wenige, kaum greifbare Erinnerungen sind alles, was Judith Friedmann von ihrem Vater geblieben war. Dem Mann, den sie im Alter von drei Jahren zum letzten Mal gesehen hat, bevor der ungarische Jude von den Nazis seiner Heimat entrissen und in das Konzentrationslager Neuengramme deportiert wurde, getötet – und auf ewig verschollen, wie sie glaubte. Doch nun hat die heute 75-Jährige etwas Greifbares, für sie unendlich Wertvolles. „Es ist unglaublich“, sagt sie. „Es ist ein Wunder.“

Denn jetzt hat Judith Friedmann ein Grab mit den sterblichen Überresten ihres Vaters Eugen Rauchwerger, eine Stätte, an der sie für ihn beten kann. Und diese liegt seit Neuestem sogar in Jerusalem, auf heiligem Boden. „Das war für mich eine Herzensangelegenheit“, sagt sie. „Ich bin so dankbar, dass wir das erreichen konnten. Denn noch bis vor neun Monaten wusste ich nicht einmal, dass mein Vater damals nicht verbrannt wurde wie fast alle anderen ums Leben gekommenen Insassen in Neuengamme. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich ihn jemals wiederfinden würde.“

Die Eltern von Judith Friedmann, Olga und
Eugen
Die Eltern von Judith Friedmann, Olga und Eugen © Judith Friedmann

Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Schließlich konnte Eugen Rauchwerger, bis dahin mehr als 70 Jahre bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, aus seinem Grab exhumiert, eindeutig identifiziert und nach Jerusalem umgebettet werden. Dass dies nach so langer Zeit gelang, ist auch für Shlomo Bistritzky, den Landesrabbiner von Hamburg, „ein besonderer, vielleicht sogar einzigartiger Fall.

Es ist etwas Außergewöhnliches, dass nach mehreren Jahrzehnten das Grab eines Juden entdeckt und er nach Jerusalem umgebettet werden konnte. Jeder religiöse Jude wünscht sich ein Begräbnis in Jerusalem.“ In diese besondere letzte Reise des Nazi-Opfers Eugen Rauchwerger zu seiner nun allerletzten Ruhestätte waren neben dem Rabbinat unter anderem das Hamburger Staatsarchiv, die Friedhofsverwaltung und das Hamburger Institut für Rechtsmedizin am UKE eingebunden, das die Exhumierung des Toten fachmännisch begleitet hat.

Großmutter hat sie versteckt

„Mein Vater stammte aus einer kleinen ungarischen Stadt an der Grenze zur Slowakei, er war Chemiker“, erzählt Judith Friedmann. Sie wurde drei Jahre nach der Eheschließung der Eltern geboren, zwei Jahre darauf kam ihr Bruder zur Welt. Als sie drei Jahre alt war, im Jahr 1944, drängte die Großmutter die Eltern, unbedingt auszuwandern.

Doch der Vater glaubte, dass er und seine Familie noch sicher seien. „Da nahm meine Großmutter mich zu sich. Sie hat mich aus dem Kindergarten abgeholt und mich versteckt.“ Das war ihre Rettung. In jener Zeit wurden die Mutter und der kleine Bruder, damals ein Säugling, nach Auschwitz deportiert, wo beide getötet wurden; der Vater kam etwa zur gleichen Zeit erst in das Konzentrationslager Buchenwald, dann weiter nach Bergen-Belsen und schließlich nach Neuengamme. „Ich wurde unterdessen von der Großmutter unter Lebensgefahr außer Landes geschmuggelt, später kamen wir als Flüchtlinge nach Paris, dann nach Wien. Und als ich 19 war, habe ich in die Schweiz geheiratet.“

„Ich war fassungslos vor Freude“

An ihren Vater erinnere sie sich kaum, sagt Judith Friedmann. Was sie wusste, war, dass er kurz vor Kriegsende verstorben war. Bei einer Familienfeier Anfang 2016 in Israel besuchte sie das Grab der Großmutter. Auch der Name von Vater und Mutter standen auf dem Grabmal. Der Zufall wollte es, dass sie etwa zur selben Zeit auf eine Information des „International Tracing Service“ stieß, einem Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über nationalsozialistische Verfolgung.

„Es hieß, dass sie von vielen Opfern Erinnerungsstücke wie Ringe oder Kleidung haben, Dinge von überwiegend ideellem Wert, die sie an die Nachfahren weitergeben können“, erzählt Judith Friedmann. „Dort rief ich an und fragte, ob es noch etwas aus dem Nachlass meines Vaters gebe. Und ich bekam die unglaubliche Nachricht: ,Wir haben ein Grab.‘ Ich war fassungslos vor Freude, als ich das hörte! Damit hatte ich nie gerechnet. Ich hatte doch geglaubt, dass er ins Krematorium gekommen war.“

Judith Friedmann wieder daheim in
ihrem Schweizer Haus
Judith Friedmann wieder daheim in ihrem Schweizer Haus © privat

Dass ihr Vater nicht dort endete, liegt offenbar daran, so die Schweizerin, „dass die Nazis kurz vor Ende des Krieges die Krematorien in Neuengamme stillgelegt hatten, damit die Alliierten dort keine brennenden Öfen finden. Mein Vater ist am 9. März 1945 gestorben und wurde also beerdigt, auf dem Friedhof Ohlsdorf. Ich rief den Rabbiner in Hamburg an und bat ihn, am Grab meines Vaters ein Gebet zu sprechen.“

„Frau Friedmann war sehr aufgeregt“, erinnert sich Rabbi Bistritzky. Es sei ein „intensives halbes Jahr“ gewesen, von dem ersten Kontakt mit der Frau bis zur Exhumierung ihres Vaters auf dem Friedhof Ohlsdorf. Dort gebe es ein besonderes Areal, wo Menschen aus 24 Nationen, die im Konzentrationslager umgekommen sind, vergraben wurden, berichtet Bistritzky. „Es gibt sogar kleine Steine mit Namen.“

„Alles tun, damit die Familie zusammenkommt“

Anhand von Unterlagen der Friedhofsverwaltung konnte das Grab von Eugen Rauchwerger schließlich eindeutig identifiziert werden. Damit stand für Judith Friedmann fest, dass sie die Umbettung der Gebeine ihres Vaters nach Jerusalem erreichen wollte. Für die Frau war dies ein ganz besonderes Anliegen, nicht nur, weil es der Tradition entspricht. „Meine Großeltern liegen ebenfalls dort begraben“, erzählt sie. „Und auch für meinen Mann und mich hatte ich dort eine Grabstätte ausgesucht. Ich wollte alles tun, damit die Familie zusammenkommt.“

Das Problem: Aus den Friedhofsunterlagen ging genau hervor, wo sich das Grab befindet, aber ebenso eindeutig, dass darin zwei Menschen beerdigt wurden, Eugen Rauchwerger und ein weiteres Opfer der Nazis, und dass die Gebeine nebeneinander liegen. Doch wer von beiden war wer? Das galt es herauszufinden.

Dazu mussten beide Toten exhumiert werden. „Wir hatten unglaubliches Glück, dass wir Nachfahren des anderen Mannes ausfindig machen konnten“, erinnert sich Judith Friedmann. Diese hätten zugestimmt, dass ihr Verwandter mit exhumiert wird. Nun ging es darum, einwandfrei zu identifizieren, welcher der Toten Judith Friedmanns Vater war. Das Institut für Rechtsmedizin wurde gebeten, sich des Falles anzunehmen.

Toten eindeutig identifizieren

Dessen Direktor Professor Klaus Püschel war von der außergewöhnlichen Geschichte sofort elektrisiert. „Wir haben schon ähnliche Untersuchungen an toten Soldaten und abgestürzten Fliegern vorgenommen, deren Skelette weitgehend erhalten aufgefunden wurden“, sagt Püschel. „Es geht aber nicht nur darum, die Knochen zu bergen.

Hier wurde auch lebendige Geschichte an einem Toten nachvollzogen. Zudem haben wir damit Einblicke und Verständnis für die Besonderheiten des Judentums und den Umgang mit den Toten gewonnen. Sehr beeindruckend war zudem die Begegnung mit der Tochter des Opfers. Und die Tatsache, dass eine Familie, die gar nicht aus Hamburg stammt, in Hamburg an einem Grab zusammengefunden hat.“ Außer Judith Friedmann waren auch deren Söhne nach Hamburg gekommen.

Der Identifikationstein mit der
Nummer 2840
Der Identifikationstein mit der Nummer 2840 © Rabbiner Bistritzky

Zwischen der Tochter Eugen Rauchwergers und dem Institut für Rechtsmedizin wurde besprochen, dass ein DNA-Abgleich vorgenommen werden solle. Die Tochter gab dafür eine Speichelprobe ab, von dem Toten sollte das Erbgut aus einem Zahn extrahiert werden. Dies war nach jüdischer Tradition schon ein außergewöhnliches Zugeständnis. „Denn nach dem jüdischen Gesetz sollen die Reste eines Toten komplett begraben werden, nicht das kleinste bisschen darf fehlen“, erklärt Rabbi Bistritzky.

Zur Exhumierung reiste neben Bistritzky auch extra aus Israel Rabbi Mendel Eckstein an, ein jüdischer Experte für die Bergung von Toten. Nachdem Friedhofsmitarbeiter schon am frühen Morgen die oberste Schicht der Grube freigelegt hatten, stieg der Rabbiner selber in das Grab, untersuchte das Erdreich und arbeitete sich, teilweise im Liegen, zentimeterweise vor.

Entscheidender Hinweis bei Exhumierung

Sorgfältig und fachmännisch hob der Mann mit dem langen weißen Bart die beiden Skelette aus. Püschel: „Die ­Anthro­pologin der Rechtsmedizin, Dr. Eilin Jopp-van Well, und ich haben sichergestellt, dass die Exhumierung auch nach rechtsmedizischen Maßstäben exakt durchgeführt wurde. Angrenzendes Erdreich wurde mit eingepackt. Wie Eugen Rauchwerger zu Tode gekommen ist, sollte nach der Entscheidung der Familie bewusst nicht untersucht werden. Und Kleidung oder Schmuck wurden nicht gefunden.“

Rabbi Mendel
Eckstein, extra zur
Exhumierung aus
Israel angereist,
hebt sorgfältig das
Grab aus
Rabbi Mendel Eckstein, extra zur Exhumierung aus Israel angereist, hebt sorgfältig das Grab aus © Rabbiner Bistritzky

Aber sie stießen bei der Exhumierung auf einen entscheidenden Hinweis, der nach Überzeugung von Rabbi Mendel Eckstein ausreichte, um Eugen Rauchwerger eindeutig zu identifizieren: Zwischen den Beinen der beiden Toten fanden sie jeweils einen kleinen Identifizierungsstein, in den eine Nummer eingraviert war.

Es war eindeutig, dass die Steine ursprünglich an den Toten festgebunden gewesen waren. Bei dem einen war es die Nummer 2840. „Die Nummer stimmte“, erzählt Judith Friedmann. „Die Ziffer ist genau diejenige, die in allen Dokumenten über meinen Vater auftauchte!“ Experten versicherten, dass dies als ein sicheres Zeichen gewertet werden darf, dass es sich bei diesen Gebeinen um die von Judith Friedmanns Vater handelt.

„Ich habe geweint und gelacht“

Damit hatte sich insbesondere nach Überzeugung von Rabbi Eckstein ein DNA-Vergleich erübrigt. „Ich hatte meinen Vater wieder!“, erzählt Judith Friedmann. „Ich hatte gemischte Gefühle: große Freude – und zugleich war ich zutiefst erschüttert, weil mir das furchtbare Schicksal, das so viele Menschen erlitten haben, durch den Kopf ging. Wie konnten Menschen anderen so etwas antun? Ich war zugleich schockiert und auch sehr dankbar, und ich habe geweint und gelacht. Und ich war zutiefst gerührt über die Hilfe aus der Rechtsmedizin und über die des Friedhofs. Alle haben sich fantastisch benommen.“

Die Gebeine ihres Vaters wurden in einen Sarg gelegt, der im Auto zunächst nach Berlin und von dort mit dem Flugzeug nach Israel transportiert wurde. „Dort gab es auf dem Friedhof eine wunderschöne Zeremonie, an der etwa 500 Menschen teilgenommen haben“, erzählt Judith Friedmann. „Es war berührend und bewegend. Ich bin sehr, sehr glücklich, dass ich das erleben durfte.“