Hamburg. Der Skipper der „Sea Watch“ will im Mittelmeer Flüchtlinge vor dem Tod bewahren. Er hat Respekt vor dem, was auf ihn zukommt.

Bloß kein großes Gewese! Rummel um seine Person? Nein, sagt Ingo Werth, es gehe doch auf keinen Fall in erster Linie um ihn selbst, den Skipper der „Sea Watch“, sondern ausschließlich um das Projekt an sich: Um das „Engagement für Geflüchtete“, um die Seenotrettung im Mittelmeer, etwa 30 Meilen vor der libyschen Küste. Also bitte kein Foto am Hafen, womöglich noch mit einem Schuss Seefahrerromantik. Der wilde Garten seines Häuschens muss als Hintergrund genügen.

Am kommenden Sonnabend wird sich der 56-jährige Hamburger morgens ins Flugzeug setzen, um etwa acht Stunden später im Basislager der Flüchtlingsaktivisten auf Lampedusa anzukommen. Am 1. Juli wird er mit dem betagten Hochseekutter „Sea Watch“ auslaufen und Kurs nehmen auf den westlichen, gut 500 Kilometer breiten Küstenabschnitt zwischen den libyschen Städten Sfax und Tripolis, wo zurzeit vermutlich etwa eine Million Afrikaner auf die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa warten – obwohl auf dem Weg schon Tausende von ihnen ertrunken sind.

„Und genau das muss endlich aufhören“, sagt Ingo Werth. Die Situation sei nun einmal so katastrophal, wie sie sei. „Wir können ja weder die politische und wirtschaftliche Situation in den Heimatländern der Flüchtlinge ändern, noch etwas gegen die Schlepperbanden unternehmen. Wir sehen es einfach nur als unsere menschliche Pflicht an zu versuchen, so viele Flüchtlinge wie möglich vor dem Ertrinken zu retten.“ Andererseits wünschen sich die „Sea Watch“-Aktivisten aber auch, dass ihre Mission Signalwirkung hat und vielleicht noch mehr Europäer als bisher aufrüttelt und sogar dazu animieren könnte, selbst etwas zu unternehmen. Und wenn es nur der Protest gegen die Flüchtlingspolitik der EU sei.

Die von den Mitgliedsstaaten betriebene Rettungsaktion „Mare Nostrum“, mit der über 130.000 Menschen aus dem Wasser gefischt wurden, war im vergangenen Jahr eingestellt worden. Aus finanziellen Gründen. Die an ihre Stelle getretene Grenzschutzmission „Triton“ aber patrouilliert nur noch in unmittelbarer Nähe der europäischen Küsten. „Sea Watch“ vertritt daher öffentlich die Ansicht, dass „ertrinkende Flüchtlinge billigend in Kauf genommen werden, da Abschreckung politisch gewollt ist“. Dabei müsse man sich doch die Frage stellen, so Werth, ob nicht eigentlich der jahrhundertelange Umgang der Alten und der Neuen Welt mit dem afrikanischen Kontinent das Grundübel sei.

Werth weiß aber auch, dass sie auf dem 21 Meter langen Kutter, Baujahr 1917, der mit privaten Mitteln und Spendengeldern für 60.000 Euro in den Niederlanden gekauft und für dieselbe Summe – und dank vieler ehrenamtlicher Helfer – saniert wurde, eigentlich keine Flüchtlinge an Bord nehmen dürfen, aus rechtlichen Gründen. Auf diese Extrem-Situation haben sich die verschiedenen Crews, die sich im Zwei-Wochen-Rhythmus abwechseln werden, bereits in Deutschland mit Planspielen vorbereitet. „Das ist keine zweite Cap Anamur, schon allein von der Größe her nicht. Wir sehen unsere Aufgabe darin, mit der ‚Sea Watch‘ auf den Schlepperrouten im Mittelmeer zu patrouillieren und Flüchtlingsboote zu finden“, sagt Werth, der die erste Tour als Skipper leiten wird. An Bord sind außerdem drei Mediziner, auch von „Ärzte ohne Grenzen“, ein Journalist sowie weitere drei Besatzungsmitglieder, allesamt hochseetauglich und krisenerprobt.

„Wenn wir ein Flüchtlingsboot entdecken, werden wir unser Schnellboot zu Wasser lassen. Es soll sich dem Flüchtlingsboot nähern und die Situation abklären. Die Menschen erhalten dann bei Bedarf Wasser, Lebensmittel, ärztliche Hilfe, Schwimmwesten und Rettungsinseln.“ 400 Westen sind an Bord der „Sea Watch“, 500 weitere Flüchtlinge würden im Havariefall Platz in den Rettungsinseln finden. „Und selbstverständlich melden wir einen solchen Seenotfall als allererstes den entsprechenden Behörden über Funk“, sagt Werth, „aber die Horrorvorstellung, schlimmstenfalls abdrehen und Menschen zurücklassen zu müssen, wenn unsere Kapazitäten nicht ausreichen sollten, ist immer präsent. Denn genau genommen ist die ‚Sea Watch‘ ja kein Rettungsschiff – sondern nur eine Signalgeberin.“

Das Telefon läutet. Ein Anruf aus dem Basislager auf Lampedusa. Harald Förster, ein Logistiker, erzählt kurz, dass die „Sea Watch“ am Abend wie vorgesehen zu ihrer ersten Probefahrt auslaufen wird. Denn bevor die Rettungsmission am 1. Juli richtig losgeht, will man noch einmal alle infrage kommenden Manöver unter realen Bedingungen üben. Die Aktivisten an Bord, die „Sea Watch“ selbst, sollen sich schließlich auf keinen Fall selbst gefährden. Es hat auch etwas von deutscher Gründlichkeit: Wenn eine Crew nach 14 Seetagen wieder Land betritt, wird sie von einem Kriseninterventionsteam in Empfang genommen werden. „Wir wissen ja nicht, was da unten auf uns zukommen wird“, sagt Werth. Für ihn ist der Respekt vor den vor ihnen liegenden Aufgaben entscheidend. Und eine gewisse Demut: „Wir stehen zurzeit mit unserer geplanten Hilfsmission schon ganz schön im Fokus der Öffentlichkeit. Aber ich möchte jetzt mal zu bedenken geben, dass wir bisher noch keinen Menschen aus Seenot gerettet haben.“ Am liebsten wolle er daher den „Ball jetzt erst mal ganz flach halten“, meint er.

Seine Frau Susanne, die als Purserette bei der Lufthansa auf der Mittel- und Langstrecke arbeitet, sein Bruder, sein Kompagnon und die 20 Mitarbeiter stehen voll hinter ihm. Tragen seinen genau geplanten Aktionismus mit und unterstützen ihn dabei. Er könne ja auch nicht anders, sagt er, er „sei eben so“. Damals in den frühen 80erJahren, als er nach dem Abitur mit einem Freund in Mittelamerika auf Abenteuertour war, habe es bei ihm Klick gemacht. Mit ihren alten BMW-Motorrädern waren sie mitten in den Bürgerkrieg in El Salvador hineingefahren, hatten auch die sandinistische Revolution in Nicaragua hautnah miterlebt. „Damals habe ich zum ersten Mal unendliches menschliches Leid gesehen und beschlossen, mich gegen Unrecht und für Menschenrechte zu engagieren, mit meinen Mitteln“, sagt Werth. „Aber ich habe bisher immer noch kein Helfersyndrom entwickelt.“

Sein Lehramtsstudium brach er dennoch kurz vorm Examen ab, war dann Mitbegründer des Bergedorfer Taxikollektivs und kam wenig später über die Autoschrauberei zu einem eigenen Kfz-Betrieb. Er engagierte sich in der Antifa-Szene, seit zwei Jahren auch für den „Fluchtpunkt Bergedorf“. An seiner Haustür kleben ein Anti-Atomkraft-Zeichen und die Einladung „Ein Bett für Edward Snowden“. Logisch, dass sein Fußballherz daher für den FC St. Pauli schlägt; den Verein, der das „Sea Watch“-Projekt über seine „Kiez-Helden“ ebenfalls unterstützt.

Aber nun sei Schluss mit dem Gerede über ihn selbst, befindet er. Im Mittelpunkt solle die Aufgabe stehen, Flüchtlinge zu retten. „Es wäre daher toll, wenn sich noch mehr Menschen oder Unternehmen finden ließen, die unsere Mission auch finanziell unterstützen. Auch, wenn man vermutlich nicht alle Flüchtlinge retten kann.“