Seit 14 Jahren sitzt Heß im Rollstuhl – seither ist sie erfolgreiche Sportlerin und hilft belasteten Familien. Was sie antreibt.

Ob sie das wirklich ist? Der Blick geht noch einmal zu den Fotos von 2016, als Jennifer Heß zu den Paralympics nach Rio de Janeiro gefahren war als Hamburgs erfolgreichste Sportlerin. Das Bild zeigt eine Frau mit schwarzen kurzen Haaren und einem offenen, zuversichtlichen Blick. Daran erkennt man sie dann auch tatsächlich wieder, denn ihre Haare sind inzwischen lang und zu Dreadlocks geflochten und leuchten in Farbtönen zwischen Rosa und Violett.

Stillstand ist die Sache von Jennifer Heß definitiv nicht. „Ich weiß nicht, wie viele verschiedene Haarfarben ich in meinem Leben schon gehabt habe“, sagt die 46-Jährige lachend in der neuen Folge des Abendblatt-Podcasts „Von Mensch zu Mensch“. Wobei es bei Jennifer Heß beim Thema Veränderung nicht nur um Haarfarben geht. Sondern um eine allgemeine Einstellung zum Leben. 14 Jahre ist der Unfall inzwischen her, der ihr Leben veränderte – als sie vom Pferd fiel und sich dabei eine Rückenmarksprellung zuzog. Inkompletter Querschnitt hieß die niederschmetternde Diagnose.

Heß entdeckte kurz nach ihrem Unfall das Bogenschießen für sich

„Ich wurde mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen und weiß noch, wie ich mich zwei Tage später in den Rollstuhl gesetzt habe, zum Hubschrauber-Landeplatz gefahren bin, um mir das noch einmal anzuschauen, und für mich beschlossen habe: Das ist es nicht gewesen. Das muss jetzt weitergehen.“ Und so geschah es. Es ist eine beachtliche Mischung aus Pragmatismus, Zuversicht und Ehrgeiz, die Jennifer Heß über einen Schicksalsschlag hinweghilft, für dessen Aufarbeitung andere Jahre gebraucht hätten.

2009, kurz nach ihrem Unfall, entdeckt sie das Bogenschießen für sich – und schafft es innerhalb kürzester Zeit an die Weltspitze. Bis heute hält sie den deutschen Rekord in der Halle und im Freien, darüber hinaus mit 610 Ringen den Hamburger Rekord – und zwar auch der Nicht-Behinderten.

Das ganze Gespräch gibt es im Podcast Von Mensch Zu Mensch
Das ganze Gespräch gibt es im Podcast Von Mensch Zu Mensch © HA | Unbekannt

Es ist dieses Anpacken, dieser Drang dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, der Jennifer Heß zu dem gebracht hat, was sie heute ist. Der Unfall, erzählt sie im Podcast, habe viel Positives in ihr Leben gebracht: „Ich denke seitdem anders, ich agiere anders, ich habe so viele Dinge kennengelernt, die ich vorher nicht kannte. Und wenn ich etwas machen möchte, dann mach ich’s!“

Das Projekt Atempause setzt positive Impulse

Diese Energie, diesen Lebensmut vermittelt sie auch anderen. Zum Beispiel im Projekt „Atempause“ der Hamburger Albertinen-Stiftung – die eine jeweils einwöchige Erholungsreise für Alleinerziehende und Eltern nach Mölln anbietet. Bis zu zwölf Familien fahren dann gemeinsam zum Tannenhof, um zu entspannen, Natur zu erleben, Sport zu treiben – und bekocht zu werden. Die Kosten übernimmt die Stiftung, auch die Hin- und Rückfahrt.

„Wir möchten durch das Projekt Atempause Impulse setzen für das weitere Leben“, sagt Sabine Pfeifer, Geschäftsführerin der Albertinen-Stiftung, und fügt hinzu: „für ein freudvolles Leben.“ Oft ist es die erste Auszeit außerhalb Hamburgs für die Kinder aus finanziell schlecht gestellten Familien. Ein Neunjähriger sagte am Ende der Reise: „Ich freue mich jetzt am meisten darauf, in der Schule endlich mal zu erzählen, dass ich im Urlaub war.“

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Jennifer Heß betreut das Bogenschießen

Es gibt auch einiges zu erzählen. Auf dem Freizeitprogramm stehen Waldführungen, bei denen die Kinder im Moos liegend Vögeln und anderen Geräuschen lauschen. Oder sie rutschen auf Plastiktüten Sandberge hinunter, um danach zu lernen, woher Steine stammen und wie alt diese sind.

Bogenschießen ist ein Sport, den Jennifer Heß betreut. Und immer wieder merkt, wie viel sie den Kindern in den kurzen Momenten über ihren Sport vermitteln kann. Sie selbst kann ihn wegen chronischer Schmerzen in der Schulter nicht mehr ausüben. Aber all das, wofür Bogenschießen steht – die Ruhe und Konzentration, die in einen Schützen fließt, wenn er sich zum Schuss bereit macht – all das lässt sie auch die Kinder im Tannenhof spüren, die in diesen Momenten über sich hinauswachsen und staunen, was sie in so kurzer Zeit in einer technisch hoch anspruchsvollen Sportart zustande bringen.

Jennifer Heß bei einem Ausflug des Mütter-Atempause-Projekts der Albertinen-Stiftung,
Jennifer Heß bei einem Ausflug des Mütter-Atempause-Projekts der Albertinen-Stiftung, © HA | Albertinen-Stiftung

„Ich habe sogar schon mal eine Lehrerin zum Weinen gebracht“, erzählt Heß aus einem ihrer Kurse mit einer Schulklasse. „,Diese beiden‘, sagte sie, ,die bekomme ich mit nichts erreicht, die haben noch nie etwas länger gemacht als fünf Minuten. Und bei Ihnen bleiben die einfach bei sich, fokussieren sich und haben Erfolg.‘“

Jennifer Heß: "Sind wir nicht alle Mutmacher?"

Es sind Momente, die Jennifer Heß alles zurückgeben. Obwohl sie gerade das Wort Mutmacher so gerne gar nicht hört. „Sind wir nicht alle Mutmacher, jeder von uns?“, fragt sie im Podcast. Nicht, um eine Antwort zu bekommen, sondern vor allem, um nachdenklich zu machen, wofür Menschen mit Behinderung oft stehen.

An die Zeit als Fußgängerin denke sie nur noch selten, sagt Heß. Obwohl es zwei Dinge gebe, die sie vermisse: „Barfuß im Sand zu laufen. Und Motorradfahren, aber das bekomme ich vielleicht irgendwann mal wieder hin.“

Die Albertinen-Stiftung bietet 2023 folgende „Atempause“-Termine an: 6. bis 13. März, 17. bis 24. Juli, 14. bis 21. August, 16. bis 23. Oktober. Kontakt: Katharina Bader, E-Mail: katharina.bader@albertinen.de