Hamburg. Die Hamburger Schützin startet bei den Paralympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro, die am Mittwoch beginnen.
Irgendwann im letzten Vierteljahr, Jennifer Heß weiß nicht mehr genau, wann das war – vielleicht nach der feststehenden Qualifikation für die Paralympics –, irgendwann also sagte die 15 Jahre alte Maleen: „Mami, ich bin stolz auf dich.“ Und das ist wohl mehr wert als jede Medaille. Welches Kind sagt schon so etwas? Doch „ohne die Unterstützung der Familie ginge das alles nicht“, weiß Jennifer Heß.
Jetzt ist die Hamburgerin, die in Mölln wohnt, also in Rio de Janeiro und fiebert ihrem ersten Start am 11. September im Mixed mit Partner Maik Szarszweski entgegen, bevor sie vier Tage später im Einzel antritt. Die 40 Jahre alte Bogenschützin hat ein Ziel erreicht, ohne das sie die Folgen dieses verdammten Reitunfalls wahrscheinlich viel schlechter hätte verarbeiten können. „Drei oder vier Tage danach habe ich mir gesagt: ,Das kann es nicht gewesen sein‘“, erzählt Jennifer Heß, „mir war auch schnell klar, dass ich etwas erreichen wollte.“
Der sportliche Ehrgeiz kam durch. Herausforderung annehmen statt aufgeben. Das Leistungssportler-Gen, sagt Ehemann Krischan sinngemäß. Seine Frau war Schwimmerin, hat an deutschen Meisterschaften teilgenommen, war Rettungstaucherin, ist viel Rad gefahren. Volles Programm. Dazu die drei Kinder Tine, Maleen und Gerrit, heute 14, 15 und 18 Jahre alt. Alles nicht einfach nach dem Sturz, gar nicht. Zum Glück zieht die Familie voll mit. „Früher hast du uns geschoben, heute schieben wir eben dich“, hat Gerrit gesagt.
2008 im April war der Unfall passiert, da war sie 32 Jahre alt. Rückenmarksprellung, inkompletter Querschnitt. Ein neues Leben. Jennifer Heß kann stehen, wenige, schwere Schritte tun. Das hilft, wenn sie den Rollstuhl und den schweren Bogenkasten im Auto verstauen muss, doch grundsätzlich ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Eine grundlegende Reha, Rollstuhltraining, an Sport heranführen, Therapiegespräche, „das gab es alles nicht. Ich habe mir alles selbst organisieren müssen.“ Und so landete sie auch nicht beim Basketball, wie viele andere Unfallopfer, sondern erinnerte sich daran, dass sie mal Jahre früher in einem Feriencamp Spaß am Bogenschießen hatte. „Also habe ich beim TSV Sterley angerufen, ihnen gesagt, dass ich Bogenschießen möchte.“
Das war 2009. Sie solle doch mal vorbeikommen, hieß es. „Ja, aber da ist noch etwas: Ich sitze im Rollstuhl“, erzählt Jennifer Heß. Doch das war dann gar kein Problem für den kleinen Club und seine Schützen. Mal hier mit angefasst, mal dort etwas getragen, natürliche Inklusion. „Ich habe dann schnell gemerkt, dass ich Talent habe, mir ist der Sport nicht schwer gefallen“, sagt sie. Der Weg in den Leistungssport war geebnet.
Kritik am Deutschen Behindertensport-Verband
20 Stunden die Woche investiert sie in den Sport, schießt täglich 200 Pfeile. 2010 bestritt Jennifer Heß mit dem Recurvebogen erste Meisterschaften. Inzwischen hält die Schützin vom Schützenverein Hausbruch mit 610 Ringen den Hamburger Rekord (auch der Nichtbehinderten), ist mehrfache deutsche Meisterin, Achte der Weltrangliste, WM-Siebte 2015 und deutsche Rekordhalterin in Halle und im Freien.
Beim Fototermin in einem Park nahe dem Olympiastützpunkt kommt ein spazierengehendes Ehepaar vorbei. „Gehen Sie nach Rio, nehmen Sie an den Spielen teil?“, fragen sie. Und dann kommt man ins Plaudern. Wie toll das doch alles ist, was für ein Erlebnis. Und ganz viel Erfolg und Glück! Ein Selfie haben sie nicht erbeten, vielleicht hatten sie kein Handy. Jennifer Heß hat sich gefreut über die Anerkennung völlig Unbekannter. Das ist nicht normal.
Ein bisschen nagt das schon in ihr. Randsportart und dann noch im paralympischen Bereich, da läuft nicht viel mit Aufmerksamkeit, Sponsoren und Unterstützung. 3500 Euro kostet der Hightech-Bogen, zwei davon braucht sie im Wettkampf, 50 Euro ein Pfeil, zwölf sind ein Satz. Das Material muss sie selbst zahlen. Urlaub geht für Wettkämpfe drauf. „Ohne die Unterstützung vom Team Hamburg ginge das alles nicht“, sagte sie und lässt kein gutes Haar am Deutschen Behindertensport-Verband (DBS): „Dort wird alles Geld in die Funktionäre gesteckt und nicht in die Sportler“, sagt sie, „darf man ruhig schreiben. Dazu stehe ich.“
Jennifer Heß ist schließlich andere Probleme gewöhnt. Seit 2011 hat sie eine Morphiumpumpe implantiert, die gut eingestellt die chronischen Schmerzen beseitigt, eine „gute Entscheidung. Mit Schmerzen wird man zum Arschloch.“ Die Schleimbeutel in der Schulter sind angeschlagen, 2015 lag sie nach einer Bauch-OP ein Vierteljahr im Geesthachter Johanniter-Krankenhaus, „die haben mir super geholfen und waren mit dem Herzen dabei.“ Und am Ende ist es immer wieder der Sport, der bei alldem hilft. Auch im Wettkampf. „Ich glaube, bei uns geht es fairer zu. Jeder hat schließlich irgendwann ganz große Scheiße erlebt, das verbindet, und man achtet sich gegenseitig vielleicht mehr.“