Osdorf. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage ist es in Hamburg zu einer Schießerei gekommen. Wie Experten die Lage einschätzen.
Bei einer erneuten Schießerei nahe dem Elbe Einkaufszentrum ist ein 33 Jahre alter Mann lebensgefährlich verletzt worden. Zeugen sahen drei Täter weglaufen. Wieder führt die Spur ins Drogenmilieu. Der Angeschossene ist der Polizei im Zusammenhang mit Drogendelikten bekannt. Erst am 10. Januar hatte es eine Schießerei in Tonndorf gegeben, bei der ein 26 Jahre alter Mann lebensgefährlich und sein Beifahrer (30) durch einen Streifschuss verletzt wurden.
Auch in dem Fall sind die Angeschossenen im Zusammenhang mit Rauschgiftdelikten aktenkundig. Bereits im vergangenen Juli war ein 27-Jähriger in einer Shishabar durch mehrere Schüsse tödlich verletzt worden. Auch dabei handelte es sich um eine Auseinandersetzung in der Dealerszene.
Polizei Hamburg sieht Indizien für neuen Drogenkrieg
„Das Jahr ist noch keine drei Wochen alt, und wir haben bereits zwei Schießereien im öffentlichen Raum gehabt“, sagt Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). „Solche Taten sind immer mit der akuten Gefährdung von Unbeteiligten verbunden. Das ist eine alarmierende Entwicklung. Ich befürchte, dass es weitere vergleichbare Taten geben wird.“
Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), sieht eine „neue Generation“. „Wir haben es jetzt mit Kriminellen aus dem Rauschgiftmilieu zu tun, die nicht davor zurückschrecken, ihre Kontrahenten einfach zu erschießen.“
Der Kriminologe Wolf-Reinhard Kemper von der Leuphana Universität Lüneburg spricht von einer „desorganisierten Kriminalität“, die sich in der Stadt breitmache. Und die, wenn überhaupt, nur schwer überschaubar sei.
Die Zusammenhänge der Drogentaten
Die jüngste Schießerei ereignete sich am Donnerstagabend gegen 20.40 Uhr auf dem Wanderweg am Ziegeleiteich in Höhe Maulwurfsstieg. Zeugen hörten mehrere Schüsse. Dann sahen sie drei Männer weglaufen und den 33-Jährigen am Boden liegen. Getroffen im Hüftbereich wurde er durch den hohen Blutverlust nahezu besinnungslos. Die schnelle Hilfe und das gute Rettungssystem in Hamburg retteten dem Mann vermutlich das Leben.
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Das Opfer, das wie der in Tonndorf angeschossene 26-Jährige aus der Türkei stammt, wird ebenfalls dem Drogenmilieu zugerechnet. Einen direkten Zusammenhang zwischen den Taten sieht man bei der Polizei bislang aber nicht. „Was wir hier erleben, wurde bereits von Clifford Rob Shaw mit der Theorie der sozialen Desorganisation beschrieben“, sagt der Kriminologe Kemper. „Wir haben ein Problemklientel, das in bestimmten Wohngebieten konzentriert ist. Darunter gibt es zahlreiche Personen, die sich für das Dealen interessieren, weil es vermeintlich das schnelle Geld und die damit verbundenen Statussymbole bringt.“
Das Problem: „Viele dieser Personen sind gar nicht in der Lage, Geschäfte, auch wenn sie illegal sind, abzuwickeln. Das birgt natürlich ein hohes Konfliktpotenzial, das mit einer hohen Bereitschaft Schusswaffen einzusetzen, verbunden ist.“
Duckt sich die Politik vor Drogenkrieg weg?
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sieht die Taten auch im Zusammenhang mit den Erfolgen um Encrochat, der „Verbrecher-Whatsapp“, die von französischen Sicherheitsbehörden geknackt wurde. Mithilfe der überlassenen Informationen konnte die Hamburger Polizei bereits 260 Dealer verhaften. „Dass unser Ermittlungserfolg auch diese Nebenwirkung haben kann, wissen wir aus vergangenen Zeiten. Wenn Täter in Haft sitzen oder auf der Flucht sind, können sie nicht mehr ihren kriminellen Handlungen nachgehen, sie erleiden Kontrollverluste“, sagte Meyer jüngst in einem Interview mit dem Abendblatt. „Bisherige Strukturen verändern sich also, und das kann zu solchen Taten führen. Es ist jetzt ein logischer nächster Schritt, auch dagegen entschlossen vorzugehen.“
Polizei Hamburg: Encrochat absoluter "Glücksfall"
Reinecke vom BDK sieht das anders. „Was wir hier sehen, ist die aus dem Dunkelfeld gerissene Rauschgiftkriminalität, die die Politik seit Jahren nicht sehen wollte.“ Dass die Polizei überhaupt durch die Encrochat-Verfahren „hinter den Vorhang“ sehen konnte, nennt er einen „Glücksfall“. „Uns fehlen die Möglichkeiten, Täterstrukturen zu ermitteln, denn die Möglichkeiten der Polizei im Bereich IT sind eine Katastrophe. Dazu setzt der Datenschutz uns unüberwindbare Grenzen.“ Kemper sieht die Möglichkeiten ohnehin begrenzt. „Wir haben in der Szene einen Wildwuchs. Es kommen immer schneller immer neue Täter dazu.“
Schießereien im öffentlichen Raum hatte es in der Form und Konzentration in Hamburg lange nicht gegeben. Anfang der 1990er-Jahre war der Kiez ein Brennpunkt solcher Auseinandersetzungen, bei denen regelmäßig auch Unbeteiligte getötet worden waren, so etwa im berüchtigten Club 88 auf der Reeperbahn, wo ein Gast vom Hocker geschossen wurde, der dort etwas trinken wollte. Er war sofort tot.