Hamburg. Feiernde entdecken die Partyszene wieder. Fraglich bleibt, ob die Gastronomie profitiert. Anwohner befürchten Cornertreffs.

Bunt, laut, schillernd – die Reeperbahn erwacht aus ihrem Corona-Schlaf, wenn auch stockend. Hunderte tummeln sich auf der Partymeile und ihren Seitenstraßen. In den Biergärten vor den Bars sitzen Nachtschwärmer. Kleine Menschentrauben sammeln sich vor den Kiez-Kiosken.

Fraglich ist, ob Gastwirte vom Wiedererwachen profitieren oder Kioske ihnen mehr Kunden abfangen als zuvor. Die Kiosk-Debatte ist alt, und doch ist sie nicht ausdiskutiert, wie ein Abend vor Ort beweist.

„Hier sind Menschenmassen unterwegs“, sagt Ann-Katrin Femert (28). Sie sitzt mit ihrem Cocktail vor dem Sommersalon am Spielbudenplatz. Der Salon sei ihre Lieblingsbar auf dem Kiez. Am Freitag ist sie aus Herne angereist, um hier mit einer Freundin auf ihren Geburtstag anzustoßen. Zweimal jährlich feiert sie hier. Zuletzt war sie vor Ausbruch der Corona-Pandemie in Hamburg.

Hamburger Kiez: Das Tanzverbot hält die Menschen auf den Straßen

Ihr Blick ist auf die Feiernden vor den Kiosken gerichtet. Sie cornern. Das kommt für Femert aber nicht infrage. Stattdessen sitzt sie auf einer Bierbank und lauscht den Klängen, die von rechts ertönen. Fenster und Türen sind mit Zetteln beklebt. „Tanzen verboten“ heißt es.

Anwohner Oliver Muller (51) findet, das Cornern der Kiezbesucher asozial:
Anwohner Oliver Muller (51) findet, das Cornern der Kiezbesucher asozial: "Wer hierher kommt, sollte auch die Wirte unterstützen". © Axel Leonhard / FUNKE Foto Services | Axel Leonhard / FUNKE FOTO SERVICES

So schreiben es die Corona-Maßnahmen vor, wie der Senat Anfang Juli erneut bestätigte: Tanzen in öffentlichen Lokalitäten bleibt untersagt, Clubs und Diskotheken geschlossen. Der Mindestabstand von eineinhalb Metern könne sonst nicht eingehalten werden. Bis zu zehn Personen aus beliebig vielen Haushalten dürfen zusammen ausgehen und den Kiez unter Corona-Bedingungen wiederentdecken. Ob die Bars davon ausreichend profitieren, bleibt offen. Denn das Tanzverbot hält die Menschen auf den Straßen.

Davon profitieren Kioske: Getränke sind günstiger als in Bars und locken Nachtschwärmer mit kleinem Budget an. Oliver Muller (51) wohnt schräg über einem Kiosk, keine Gehminute von der Reeperbahn entfernt, und zeigt sich besorgt. „Die meisten Anwohner stehen hinter den Gastronomen. Aber wir sind dagegen, dass Leute mit Billigalkohol in der Tasche bis tief in die Nacht auf der Straße abfeiern. Das nervt und schadet den Gastwirten“, sagt er.

Leere Bierbänke auf dem Hamburger Berg: Kiezkneipen ringen um Kioskbesucher

Die umliegenden Bars dürfen seit Mai wieder öffnen und nutzen die Parkstreifen vor ihren Bars für Außengastronomie. Doch um Mitternacht stehen viele Bänke auf dem Hamburger Berg leer. Deutlich mehr wären besetzt, wenn die Kioskbesucher ihr Bier in den Bars bestellen und sich dort hinsetzen würden. Anwohner Oliver Muller (51) hat das auch bemerkt. Er beobachtet, dass der Kiez vom Cornern noch nicht so stark betroffen ist wie die Schanze, fordert aber, die aktuelle Diskussion, ob Kioske abends Alkohol verkaufen dürfen, müsse trotzdem schnell auf St. Pauli geführt werden.

„Das Damoklesschwert schwebt über uns. Wir können nicht riskieren, dass die Gastronomie stirbt und Saufgelage auf der Straße stattfinden.“ Er fürchtet, das Cornern könnte sich zunächst auf den Paulinenplatz verlegen. Er liegt auf der inoffiziellen Corner-Straße zwischen Schanze und Reeperbahn. „Die Außengastronomie ist wichtig für das Leben im Viertel. Deshalb sehe ich keinen Grund, dass Nachtschwärmer am Kiosk eine Flasche Wodka kaufen und dann auf der Straße rumgrölen“, sagt der Kiezbewohner. Er wünscht sich, dass diese Leute dann lieber direkt die Kioske im eigenen Stadtteil besuchen und dort cornern.

Von der Politik fordert er Hilfe. „Sie muss bauliche und rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, um das Wohnumfeld zu verbessern, die Gastronomen zu stärken und Alkoholverkauf am Kiosk oder im Supermarkt abends zu untersagen.“ Ähnlich äußerte sich Falko Droßmann, Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte, bereits 2016. Er forderte: „Wir brauchen eine Gesetzesänderung, um gegen die Kioske vorzugehen. Sie graben den Clubs die Einnahmen ab.

Auf St. Pauli werden 60 Kioske betrieben. Einer davon liegt gegenüber von Rosi’s Bar. Seit den Corona-Restriktionen war der Kiosk erst einmal geöffnet, sagt Türsteher Leon Sebastian (46). Er berichtet, Kioskbesucher hätten Bier gekauft und sich damit auf Rosis Bänke setzen wollen. „Das ist nicht tragbar für uns. Ich gehe auch nicht ins Restaurant und bringe mein Essen mit. Die Atmosphäre muss bezahlt werden“, sagt er.

Desinfektionsmittel und Gästeliste: Hamburger Berg setzt Corona-Auflagen um

Leon Sebastian (46) ist Türsteher vor Rosi's Bar. Er achtet unter anderem darauf, dass wegen der Corona-Panademie nicht mehr als 25 Personen gleichzeitig in dem Club auf dem Hamburger Berg sind.
Leon Sebastian (46) ist Türsteher vor Rosi's Bar. Er achtet unter anderem darauf, dass wegen der Corona-Panademie nicht mehr als 25 Personen gleichzeitig in dem Club auf dem Hamburger Berg sind. © Axel Leonhard / FUNKE Foto Services | Axel Leonhard / FUNKE FOTO SERVICES

Trotz der Kiosk-Scherereien ist der Türsteher dankbar, dass die Kneipe öffnen darf – wenn auch nur unter Auflagen. Auf dem hohen Tisch vor der Tür steht Desinfektionsmittel, eine Gästeliste liegt aus. Wer im Schankraum bestellen möchte, muss Kontaktdaten aufschreiben. Erst dann zieht der Türsteher einen Einlasschip aus der Jackentasche und übergibt ihn dem Gast.

25 darf er austeilen, das ist die Obergrenze für Besucher in Rosi’s Bar. Alle drei, vier Stunden wechsle die Kundschaft. Zwischen 1 Uhr und 4 Uhr kämen die meisten, viele davon aus dem Schanzenviertel. Ein Spuckschutz rund um den Tresen schützt die Barkeeperin, die die Getränke durch den schmalen Schlitz zwischen Spuckschutz und Tresenplatte schiebt.

Kein DJ darf auflegen

„Die Abende rechnen sich“, sagt Wirtin Rosi Sheridan McGinnity (79). „Wir jammern nicht, denn wir arbeiten kostendeckend und besser als in einem schlechten Sommer. Es geht nur nach vorne.“ Rosi’s Bar ist bekannt für ihre Verbindung zur Musikszene. Unzählige Musiker sind in der Kiezkneipe aufgetreten, darunter Ex-Mann Tony Sheridan und Freundin Inga Rumpf. Trotzdem findet Rosi es erfrischend, dass ihre Bar nun leisere Töne spielt. Statt zu tanzen, sollen die Gäste sich unterhalten und nicht mehr anschreien müssen.

Deshalb wurde das DJ-Pult an der Fensterfront abgebaut. Musik wummert nur noch auf Zimmerlautstärke aus der Anlage. Wann das Pult wieder aufgebaut wird, ist unklar. Sicher ist, bevor der Hamburger Senat nicht weitere Regeln zum Cornern erlässt und das Tanzverbot aufhebt oder andere Lockerungen erlässt, darf kein DJ auflegen, kein Hamburger tanzen und die Reeperbahn endgültig den Corona-Schlaf abschütteln, um zu alter Größe zurückzufinden.